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Titel0611

Der Älteste ist der Jüngste  (Ingrid Zwerenz)

Manche Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, anderen folgen sie nach. Mich beschäftigt noch die Erinnerung an einen Fernseh-Abend, der mir paradigmatisch erscheint: In der Sendung Beckmann am 21. Februar wäre es dem »konservativen Sozialdemokraten« Klaus von Dohnanyi beinahe gelungen, dem Bestseller-Autor Stéphane Hessel in die Quere zu kommen Enthusiasmus und Begeisterung, die nach dem Buch »Empört euch!« Hunderttausende von Menschen erfaßt hatten, paßten K. v. D. nicht, er warf vom hohen Roß herunter olle Kamellen unters Volk – wie ein Karnevalsprinz hoch auf dem Wagen, doch in Gedanken und Gefühlen erschreckend gealtert. Nicht empören solle man sich, sagte er, sondern sich engagieren für eine SPD, die Mitglieder und Wähler seit langem abschreckt.

Zu beidem hat er – nicht erst in dieser Talkshow – eifrig beigetragen: sich engagierend und andere vergraulend. Erinnert sei an seine Attacken gegen die hessische Wahlsiegerin Andrea Ypsilanti mit dem Schlachtruf: »Jede Koalition mit der Linken ist ein Fehler.« Lieber solidarisiert er sich voller Verve mit Thilo Sarrazin: In der Süddeutschen Zeitung vom 5. 9. 2010 verkündete Dohnanyi: »Aus keiner europäischen Linkspartei würde Sarrazin wegen dieses Buches ausgeschlossen. Wenn die SPD ihn ausschließen will, stehe ich bereit, ihn vor der Schiedskommission zu verteidigen. Einen fairen Prozeß wird es ja wohl noch geben. Das Wichtigste, sagte Willy Brandt in einer seiner letzten Reden, sei ihm immer die Freiheit gewesen. Er fügte hinzu: ›Ohne Wenn und Aber.‹« Ein Tiefschlag gegen Brandt, den der Verstorbene nicht abwehren kann.

Weil Hessel zum Glück noch am Leben ist, reagierte der Antifaschist, Antirassist, KZ-Häftling und gelernte Diplomat unbeirrt mit französischem Charme auf die Attacken seines Diskussionspartners: Er bleibt Sozialist, sucht neue Lösungen, um aus der desaströsen ökologischen und kulturellen Situation, die eine Mehrheit der Gesellschaft plage, herauszufinden. Es gilt, gegen »die Diktatur des Finanzkapitals« aufzustehen, aus dem Wut-Bürger muß ein Mut-Bürger werden.

In Frankreich fand Hessel Riesen-Resonanz. Wie die kürzlich auf Deutsch erschienenen 20 Seiten seines Manifests hierzulande wirken, wird man sehen (in Ossietzky 5/11 ist Helmut Weidemann schon auf einige Reaktionen eingegangen). Bei amazon eroberte das Buch, wie ich erfreut feststellte, gleich nach dem Start Platz 2 der Top-Hundert. Doch was Dohnanyi betrifft, hatte der Zuschauer in der Beckmann-Sendung den Eindruck, Hessel werfe seine Perlen vor die Säue. Ganz gewiß wird aus dem ehemaligen Hamburger Bürgermeister und Bundesminister v. D. nie und nimmer ein Kämpfer gegen die Diktatur des Finanzkapitals. Im Gegenteil.

Wie der Zufall mitunter spielt, geriet mir ein Ossietzky-Artikel aus Heft 10/2009 wieder vor Augen. Ob das dem geschätzten Redakteur nun genehm ist oder nicht, das Stück Text von Eckart Spoo muß hier hin: »Laut Artikel 20 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat, aber laut Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dem prompt viele Politiker nachschwätzen, ist der Sozialstaat ›nicht mehr finanzierbar‹ – als wäre die Bundesrepublik seit ihrer Gründung immer ärmer geworden. Der mächtige Bundesverband des Groß- und Außenhandels forderte die Streichung von Artikeln, die den Bund unter anderem verpflichten, zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse beizutragen. Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi warb für eine ›Ökonomisierung der Verfassung‹.«

Da haben wir K. v. D., wie er leibt und lebt, das zeigt den fundamentalen Unterschied zwischen ihm und dem jüdischen Résistance-Kämpfer, dem noch in seinem 93. Lebensjahr unermüdlichen Menschenrechtsaktivisten Stéphane Hessel. Kalendarisch ist der 1928 geborene Dohnanyi um einiges jünger, das nutzt aber nichts, er ist so reaktionär wie miesepetrig, sein Favorit Sarrazin desgleichen.

Bewundernswert, wie Hessel das Fernseh-Rencontre mit Dohnanyi durchstand. Ein Grund lag wohl in der hohen Wertschätzung, die er für Hans von Dohnanyi, den 1944 von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer, empfindet. Als von ihm gesprochen wurde, sagte der Sohn: »Eigentlich hätte mein Vater statt meiner hier sitzen und mit Ihnen diskutieren sollen, Stéphane Hessel.« Da konnte man ihm doch mal zustimmen.