»Wir müssen die Mythe nämlich überall beweisbarer darstellen.« So Friedrich Hölderlin in seinen »Anmerkungen zur Antigonae«. Ein trefflicher Satz, doch im Programmheft der Berliner Schaubühne zur »Antigone« des Sophokles in der Übertragung Hölderlins steht er nicht. Und beachtet wurde er schon gar nicht.
Derzeit geben sich nämlich wieder einmal die Labdakiden die Ehre, die Bühnen der Hauptstadt zu besuchen. Aber werden sie gut und gastlich empfangen?
Friderike Heller hat die »Antigone« zusammen mit Sabine Kohlstedt inszeniert, die für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Den Hintergrund dominiert der immense Apparat einer Rock-Band. Fünf Musiker unter Leitung von Peter Thießen mühen sich ab, akustische Akzente zu setzen. Den Chor ersetzt sie nicht.
Vielleicht sollte ich die Tochter des Ödipus erst einmal vorstellen, zumal sie in der Staatsoper singend auftritt und ihr Vater – von Kolonos kommend – am Schiffbauerdamm zu Gast ist.
Die Labdakiden, eine antike Königsdynastie, berufen sich auf Kadmos, den Vater des Labdakos, des Königs von Theben, und nach diesem heißt das Geschlecht. Sein Sohn ist Laios, und dessen Stammhalter ist Ödipus (Schwellfuß), der als Kind ausgesetzt wurde. Unwissentlich tötet er später im Zweikampf seinen Vater, heiratet in Theben ahnungslos seine Mutter Jokaste (schwere Verbrechen nach damaligem Recht) und zeugt vier Kinder, darunter Antigone und Schwester Ismene sowie die Brüder Eteokles und Polyneikes, also Blutschande. Polyneikes erschlägt im Kampf um die Macht Eteokles und fällt selber.
All diese Verbrechen muß nun Antigone sühnen, zu viel für einen einzigen Menschen. Sie bestattet trotz Kreons Verbot Polyneikes (Eteokles hat durch Kreon ein Staatsbegräbnis erhalten). Um verletzte Gesetze auszugleichen, verletzt sie andere. Die ungeheueren Widersprüche aus der Ablösung des eher stammesbestimmten Matriarchats durch das schon staatshaltige Patriarchat ergeben tiefgreifende dramatische Konflikte, die über Jahrtausende auf uns gekommen sind. Wie damit umgehen?
Fast alle antiken Stoffe sind vielfach adaptiert worden, die Antigone-Geschichte vielleicht am häufigsten. In deutscher Theaterpraxis hat sich Hölderlins überaus poetische, indes manchmal verunklarende Textgestalt über zwei Jahrhunderte gehalten und wird immer wieder genutzt. Auch Brecht unterlegte sie seiner Bühnenfassung. Was die Schaubühne wollte, blieb unklar. Einige Essays im Programmheft sind gescheit (ausgenommen der Text von Heidegger), ergeben aber so gut wie nichts zur Deutung.
Zwei Schauspieler (Christoph Gawenda und Tilman Strauß) stehen wie aufgestellt auf der Bühne.
Diese sonderbare und szenisch sinnlose »Aufstellung« geht auf Bert Hellinger zurück, einen aufgehörten katholischen Priester, der sich zum Therapeuten ernannte. Neben Therapie oder dem, was er dafür ausgibt, vertritt er Nazi-Ideen, die er lange in der von ihm erworbenen »kleinen Reichskanzlei« in Berchtesgaden pflegte. Diesen unter nahezu allen Psychotherapeuten höchst umstritten Unheilsboten, dessen Therapie – sehr oft zum Unglück von Patienten – zu einer Art »Mysterienspiel« entartet, läßt man hier gewähren. Auf dem Theater hat Hellinger aber gar nichts zu suchen. Er macht miese Psychologie, wo sich große gesellschaftlich-kulturelle Probleme stellen Damit zerstört er die größten Stücke der Weltliteratur. Wie hier eindeutig geschehen! In Fachkreisen gilt das als »esoterische Scharlatanerie«. Auf der Bühne ist es nichts Besseres. Und die Schaubühne muß es sich gefallen lassen, an den einst von ihr gesetzten Maßstäben von Antike-Rezeption gemessen zu werden. Denn unvergeßlich in ihrer lapidaren Größe, ihrem sowohl stabilen wie drängenden Rhythmus und ihrer gesellschaftlichen Bedeutsamkeit sind die »Antikenprojekte« (so 1974 »Die Bacchen« und besonders 1980 Peter Steins »Oresteia«). Davon gibt es hier so gut nichts mehr zu hören, zu sehen, zu spüren.
Um bei Peter Stein zu bleiben: Er macht am selben Autor in einem anderen Haus vieles von dem gut, was die Nachfolger auf seiner früheren Bühne verdorben haben. Dabei wird auch Stein selber an Stein gemessen, wenn er jetzt Sophokles’ »Ödipus auf Kolonos« im Berliner Ensemble inszeniert.
Schade fürs Publikum, daß die Labdakiden nun in umgekehrter Reihenfolge zu sehen sind. Das erste Stück, »Ödipus Tyrann«, fehlt zur Zeit auf den Berliner Bühnen. So helfen wir uns mit der Erinnerung an eine unvergeßliche Inszenierung der Fassung von Heiner Müller durch Benno Besson aus den 1970er Jahren im Deutschen Theater mit Fred Düren als Ödipus. Die Szene, als der König, der sich geblendet hat, aus dem Tor seines Palastes stürzt und mit einem Jammer des Welterbarmens die Treppe herunterkriecht, gehört zu den ergreifendsten Momenten des deutschen, wenn nicht europäischen Theaters. Von dieser unerhörten Selbst-Hinrichtung aus kann man das weitere Geschehen um Ödipus bis hin zu Antigone verstehen; auch den »Ödipus von Kolonos«. Dort findet er letztlich in einem verzeihenden Ende und einer All-Liebe seinen Frieden – aus einer Tiefe des Sturzes ohnegleichen. Die Unterwelt, im Griechischen Ur-Heimat, hat »sich ihm freundlich und schmerzlos aufgetan«. Die Tragödie mit human versöhnendem Schluß.
Wer außer Stein (zusammen mit dem Szenografen Ferdinand Ögerbauer und seiner altvertrauten Kostümbildnerin Moidele Bickel) kann das heute noch auf die Bühne bringen? Er selbst hat übersetzt, gut hörbar und auch lesbar. Der Chor kommt wie eine lockere Gruppe griechischer Bauern daher, woran auch Solisten wie Roman Kaminski mitwirken. Neben Kaminski als Wächter seien zunächst auch Katharina Susewind als Antigone und Jürgen Holtz als besonders verschlagenen Kreon genannt. Die Überraschung des Abends aber ist – jedenfalls für mich – Klaus Maria Brandauer. Ich hielt ihn seit langem für einen sehr guten Schauspieler, mit diesem Ödipus ist er für mich ein großer. Er sitzt den ganzen Abend (fast drei Stunden) auf einem Stuhl fast in der Mitte der Bühne und trägt eine Maske, hat also geringe Mittel zur Verfügung, fast nur die Stimme. Wie er mit den anderen Spielern zusammenwirkt, das ist meisterhaft! Auch Gustav Gründgens, den ich 1948 sah, konnte es nicht besser, es war seine Abrechnung mit seiner Schuld im Nazi-Reich. Unvergeßlich auch für mich, den jungen Remigranten.
So hat nun Berlin einmal wieder einen großen Theaterabend, was man von »Antigona. Tragedia per musica« von Tommaso Traetta (1727–79) im Schillertheater, der Ausweichbühne der Staatsoper, nicht behaupten kann. Katharina II. von Rußland hatte sich diese Oper gewünscht und ließ sie in Petersburg aufführen: ein Stück zwischen Gluck und Mozart, keine »Tragedia«, sondern aufklärerisch, eher heiter-versöhnlich endend. Es musiziert ein Ensemble der Akademie für alte Musik unter René Jakobs, die Regie führt Vera Nemirova. Doch in diesem grauen Filz-Einerlei ist von Regie wenig zu sehen. Da spielen vier Kinder, die man für die vier Ödipus-Kinder halten könnte, aber das ist fast schon alles. Da der Stoff bekannt ist, muß man nicht hinsehen, denn es gibt nichts An- noch Aufregendes zu sehen.
Aber hinhören sollte man schon. Mir ist es zu viel an Elektronik – das hat doch diese Musik überhaupt nicht nötig. Im Grunde hätte eine konzertante Produktion gereicht, nur sparsamer in Effekten. Aber es wurde sehr gut gesungen, von allen Solisten und auch vom Staatsopernchor. Genannt sei vor allem Veronica Cangemis als Antigona; auch Kurt Streit als Kreon erwies sich als guter Sängerdarsteller. Ach – kann Singen schön sein!