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Titel0711

Antiamerikanismus  (Thomas Rothschild)

Ist es Ihnen aufgefallen? Irgendwie ist uns der Vorwurf des Antiamerikanismus abhanden gekommen, den man über Jahre hinweg – besonders von der Glaubensgemeinschaft, die ihr Sprachrohr in der Achse des Guten und der Welt fand – jeden zweiten Tag an die Adresse der Linken vernahm. Die Wahrheit ist: Was »Antiamerikanismus« genannt wurde, war nichts anderes als eine kritische Haltung gegenüber der Politik von George W. Bush. Das Etikett diente als Totschlagvokabel, wie einst »antisowjetisch« gegenüber Sozialisten, die sich den Sozialismus anders vorstellten als die sowjetischen Machthaber, wie heute noch »antiisraelisch« gegenüber Juden und Nicht-Juden, die den Umgang der israelischen Politik mit den Palästinensern für verbrecherisch halten.

Die Wahrheit ist: Die USA – denn die waren mit Amerika gemeint, nicht etwa Kanada und auch nicht Lateinamerika – bieten jedem europäischen Besucher sympathische, erfreuliche, nachahmenswerte Erfahrungen. Die Menschen sind, jedenfalls außerhalb von New York, in der Regel freundlicher, entgegenkommender, hilfsbereiter als die Menschen in großen Teilen Europas. Neben weiterhin bestehenden Konflikten gibt es Modelle des multikulturellen Zusammenlebens, an denen wir uns ein Beispiel nehmen sollten. Viele Abläufe des täglichen Lebens sind besser organisiert, weniger bürokratisch, als wir es gewohnt sind. Und auch das Stereotyp von der Unkultiviertheit und Unbildung der Amerikaner gilt nur bedingt. Wer sich sein Bild von Texas etwa durch die Bushs formen läßt, gleicht einem Beobachter, der sich Deutschland als ein Land der »national befreiten Gebiete« vorstellt. Es gibt sie tatsächlich, aber sie sind nicht typisch oder prägend für das heutige Deutschland.

Daß mit der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten der Vorwurf des Antiamerikanismus und jene Kritik, die damit denunziert werden sollte, verstummt sind, bestärkt den Befund, daß es niemals um »Amerika«, sondern eben um George W. Bushs Politik ging. Dabei ist ja auch Barack Obama keineswegs ein Sozialist. Viele beklagenswerte Zustände verdienen nach wie vor Kritik: das Gesundheitssystem etwa, wenngleich europäische Konservative alles tun, um auch hier amerikanische Verhältnisse zu schaffen, der latente Anspruch, als Weltpolizei anerkannt zu werden, ein zugespitzter Kapitalismus, der alles, eben auch Kultur und Bildung, dem Profitstreben unterordnet. Aber all das bewegt sich noch im Rahmen europäischer »Normalität«. Ein Blick nach Italien oder Ungarn relativiert die amerikanischen Mißstände.

Was aber sagen jene dazu, die uns noch vor wenigen Jahren wegen unseres »Antiamerikanismus« am liebsten an die Wand gestellt hätten? Haben sie sich für ihre Denunziationen entschuldigt? Sie haben ja nicht die Dreistigkeit, offen die Rückkehr eines George W. Bush zu propagieren. Wollen sie nicht als »antiamerikanisch« gelten, indem sie Obama für all das tadeln, was ihn von Bush unterscheidet? Wenn aber der Wechsel von Bush zu Obama auch ihr Wohlwollen findet, wäre es dann nicht an der Zeit, jene um Vergebung zu bitten, die sie wegen ihrer Bush-Gegnerschaft als antiamerikanisch diffamiert haben?

Das ist eine rhetorische Frage. Sie werden ebenso selbstgerecht ihren Unsinn von gestern vergessen oder gar verteidigen wie jene, die uns noch nach Tschernobyl erklärten, ein GAU sei bei modernen Atomkraftwerken undenkbar. Aber ab und zu sollte man die Herrschaften an ihre Idiotien erinnern. Fürs Protokoll.