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0808

Ein kleines s zuviel  (Hermann Kant)

Laut einer aufwendigen Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung soll der Literaturkritiker Denis Scheck den im Berlin Verlag erschienenen Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell (s. Ossietzky 7/08) »... nichts weniger als ein Meisterwerk« genannt haben.

Das hat er natürlich frei, aber »nichts weniger als ein Meisterwerk« heißt nach sprachlicher Logik »nicht nur kein, sondern alles andere als ein Meisterwerk« und klingt nicht eben werbewirksam. Befragt nach dem vom Verlag für verkaufsfördernd gehaltenen Urteil, das dem Buchstaben nach auf einen Verriß hinausläuft, erwiderte Denis Scheck erheitert, er habe in der Fernseh-Sendung druckfrisch keineswegs »nichts weniger als ein Meisterwerk«, sondern »nicht weniger als ein Meisterwerk« gesagt. Er habe also nicht getadelt, sondern gelobt.

Was nichts daran ändert, daß die Anzeige mit der als Lob gemeinten und als Tadel gedruckten Bewertung – also mit »nichts« dort, wo »nicht« hätte stehen sollen – auch an den folgenden Sonntagen in dieser Hinsicht unverändert erschienen ist. Zwar angereichert mit anderen Lobesworten, aber immer noch mit dem sinnverkehrenden kleinen s.

Verunsichert durch die Obstinatheit der Anzeigenbetreuer des Berlin Verlages und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, las ich in den digitalen Nachschlagewerken »100 Romane, die jeder haben muß« und »Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka« nach, wie die dort versammelten Klassiker mit der Wendung »nichts weniger als« umgegangen sind.

Von den Belegen mit grammatikalisch ähnlicher Struktur führe ich nur wenige Fundstücke an und markiere deren einschlägige Passagen: »... die braven Leute seien freilich in der Regel sehr schlechte Musikanten, dafür jedoch seien die guten Musikanten gewöhnlich nichts weniger als brave Leute, die Bravheit sei aber in der Welt die Hauptsache, nicht die Musik«, sagt Heine in »Atta Troll«. – Oder derselbe Autor über Luther, nachdem er ihn den »Schwan von Wittenberg« genannt hat: »Aber er war nichts weniger als ein milder Schwan in manchen Gesängen, wo er den Mut der Seinigen anfeuert und sich selber zur wildesten Kampfeslust begeistert.« – Oder Keller in »Der grüne Heinrich«: »Dort galt ich für nichts weniger als für einen talentvollen Zeichner. Monatelang klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette ... und verkündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. « – Oder Stifter in »Der Nachsommer«: »Die Oberfläche der Echern ... ist aber nichts weniger als eine Ebene ... Sie besteht aus einer großen Anzahl von Gipfeln.« – Oder Winkelmann über den antiken Bildhauer Guido: »Sein Apollo in der berühmten Aurora ist nichts weniger als eine schöne Figur und ist gegen den Apollo von Mengs unter den Musen in der Villa Albani wie ein Knecht gegen dessen Herrn.« – Oder Fontane in »Frau Jenny Treibel« über ein Pferd, das »nichts weniger als ein Dänenroß voll Kraft und Feuer ...« gewesen sei, »sondern nur ein schon länger in der Manege gehender Graditzer, dem etwas Extravagantes nicht mehr zugemutet werden konnte«. – Oder noch einmal mit etwas anderem Satzbau Heinrich Heine: »Im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind. Der Viehstand ist der bedeutendste.«

Den Streit beiseite, ob Littells Roman nicht weniger als ein Meisterwerk oder nichts weniger als ein Meisterwerk sei – ich bin an digital verwahrte deutsche Prosa geraten, die ein Labsal war. Was ich nach den 1383 Seiten Mord und Mord und Mord, mit denen das gottlose Buch »Die Wohlgesinnten« daherkommt, mehr als nötig hatte. So daß ich gegenüber den Verfassern des verqueren Anzeigentextes nichts weniger als Groll und nicht weniger als Dankbarkeit empfinde.