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Titel820

Gut sein in Zeiten von Corona?  (Stephan Krull)

Am 6. März, als die Pandemie schon sichtbar, aber die Theater noch voll waren, habe ich ein Stück von Brecht sehen und hören können: Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein. Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht durch ein Feuer, bevor es Nacht wird! Nun ist Unrecht und Pandemie und Nacht über Europa – aber kein Aufruhr.

 

Die Götter, wir alle, suchen den guten Menschen von Sezuan und sonst wo. Ist die Mission schon wie im Stück gescheitert, weil trotz Pandemie und trotz Versagen der Herrschenden kein Aufruhr ist? Der göttliche Auftrag: »Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können.«

 

»Wie soll ich gut sein, wo alles so teuer ist?« lässt Brecht Shen Te in dem Stück »Der gute Mensch von Sezuan« fragen: »Der Magen knurrt leider auch, wenn der Kaiser Geburtstag hat.« Es gibt kein richtiges Leben im Falschen – schreibt Adorno in der Minima Moralia nur wenige Jahre, nachdem das Stück von Brecht 1943 in Zürich uraufgeführt worden war, unter dem Eindruck des faschistischen Terrors.

 

Im Schauspielhaus Magdeburg wurde die Parabel gezeigt, dicht am Text und an der Idee von Brecht: Die kapitalistische Gesellschaft, in der alles nur mit barer Münze gemessen wird, in der alles zur Ware wird, diese Gesellschaft ist verkommen bis verbrecherisch – eine beängstigende Aktualität, wie bei fast allem von Brecht. Wie kann der einzelne Mensch gut sein, wenn das System nur auf Maximalprofit orientiert, nur auf die Sicherung der Herrschaft der Reichen? Können menschliche Güte und Moral über menschliche Gier und gesellschaftliche Verkommenheit triumphieren? Unter der Regie von Tim Kramer spielt Maike Sommer großartig und sehr direkt die Shen Te wie auch ihren Antagonisten Shui Ta. Valentin Kleinschmidt verkörpert glaubwürdig den arbeitslosen Flieger Yang Sun, entwickelt die Musik von Paul Dessau mit Gitarre und starker Trompete in leichtverständlichen und gut passenden Jazz. Wie aktuell eigentlich alle Stücke von Brecht sind, wird am Lied vom Sankt Nimmerleinstag sicht- und hörbar, das Yang Sun gefühlvoll-resigniert singt. Da heißt es: »[…] Eines Tags, und das hat wohl ein jeder gehört/ Der in ärmlicher Wiege lag/ Kommt des armen Weibs Sohn auf ‹nen goldenen Thron/ Und der Tag heißt Sankt Nimmerleinstag./ […] Und an diesem Tag zahlt die Güte sich aus […]«

 

Auf den Sankt Nimmerleinstag warten vielleicht noch wenige gläubige Idealisten – aber das Böse, der Hass und die Missgunst sind auch anstrengend, wo Liebe und Menschlichkeit fehlen, so Brecht in »Die Maske des Bösen«.

 

Und so bleiben wir, die Zuschauer wie die Götter, ohne Antwort, die wir selbst finden müssen, enttäuscht und stehen betroffen, der »Vorhang zu und alle Fragen offen«.

 

Auch bei dem Stück mit der Pandemie sind viele Fragen offen, aber der Vorhang eben auch. Was also, so meine Gedanken heute, bedeutet es, gut zu sein in Zeiten von Corona?

 

Erst flächendeckende Tests erlauben ein vollständiges Bild als Voraussetzung für notwendige Maßnahmen, ansonsten stochern die Verantwortlichen im Nebel – und liegen oft und mit tödlichen Konsequenzen falsch.

 

Ohne einen wirklichen Schutzschirm für jene Menschen, die ihn wirklich benötigen, die von Entlassungen bedroht sind, die von Hartz IV leben müssen, die obdachlos sind, die Soloselbständigen, ohne einen Schutzschirm für soziale Organisationen und Vereine, ohne all das wird das Land, wird Europa in der Barbarei versinken – falls es dieses Europa, die »Europäische Union«, danach überhaupt noch gibt.

 

Gut sein in Zeiten von Corona bedeutet Kampf, Klassenkampf und Solidarität – nicht Warten auf den Sankt-Nimmerleinstag, der ja doch nicht kommen wird.