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Pandemie entblößt Kapitalismus  (Anne Rieger)

Niemand wollte die Passagiere an Land lassen, Kuba schon. Die kubanische Regierung erteilte einem norwegisch-britischen Kreuzfahrtschiff die Erlaubnis, einen kubanischen Hafen anzulaufen, um die Passagiere nach Ausbruch des  Coronavirus an Bord zu evakuieren. Der Inselstaat folgte damit einer Bitte der britischen Regierung, nachdem andere Karibikstaaten dem Schiff das Anlaufen näherer Häfen untersagt hatten. Die MS Braemar lief unter Applaus der Bevölkerung, nicht unter Abwehr, im Hafen von Mariel ein, wo die »kubanischen Behörden mit strengen, jedoch freundlich angewendeten, sanitären Isolierungsmaßnahmen die Passagiere zum Flughafen von Havanna transportierten und mit Charterflügen nach Großbritannien beförderten«, so Frederico Füllgraf in seinem Artikel »Die Armee der weißen Kittel« (www.nachdenkseiten.de).

 

 

WHO: Kubanisches Gesundheitssystem Vorbild für die ganze Welt

Im Zuge der Corona-Krise ringt die EU um medizinisches Material, Schutzausrüstung, Intensivbetten und Beatmungsgeräte, andern helfen tut sie kaum, im Gegenteil, sie konfisziert sogar Schutzmasken für EU-Länder. Kuba aber zeigt internationale Solidarität und hat 52 Ärzt*innen und Krankpfleger*innen nach Bergamo in Italien gesendet. Ebenso trafen Hilfstruppen kubanischer Ärzte in Venezuela ein, um eine Ausbreitung der Covid-19-Atemwegserkrankung zu verhindern. Kuba hat mit 8,19 Ärzt*innen pro 1000 Einwohner*innen die höchste Versorgungsrate der Welt. In Deutschland sind es mit 4,33 etwa die Hälfte, berichtet der Stern am 9. April. Im Jahr 2014 bezeichnete die Weltgesundheitsorganisation WHO das kubanische Gesundheitssystem als Vorbild für die ganze Welt.

 

 

EU-Kommission fordert Kürzungen bei Gesundheitsausgaben

Die EU setzte in den letzten gut zehn Jahren schnell und hart Sparmaßnahmen in Südeuropa durch, mit Auswirkungen auch auf die Gesundheitssysteme dort. Nun fühlt sie sich nicht zuständig. Laut einem im vergangenen Monat veröffentlichten Bericht hat die Europäische Kommission mindestens 63 Forderungen an die Mitgliedstaaten gestellt, die Ausgaben in der Gesundheitsversorgung von 2011 bis 2018 zu kürzen, um die willkürlichen Schulden- und Defizitziele des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu erfüllen. Diese Regeln haben die öffentlichen Dienstleistungen in ganz Europa ausgehöhlt, einschließlich der Gesundheitsdienste, berichtet Mick Wallace, Abgeordneter des Europäischen Parlaments der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL).

 

Während sich bei Redaktionsschluss Großbritanniens Premier Boris Johnson in »exzellenter« Betreuung im besten Spital befindet, müssen in Großbritannien Züge angehalten und umgerüstet werden, um ausreichend Betten zur Verfügung zu stellen. In Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien und vielen anderen Ländern war und ist es nicht mehr möglich, allen Infizierten, bei denen die Erkrankung keinen milden Verlauf nimmt, bestmöglich zu helfen. Manchen Patientinnen und Patienten wurde sogar die Behandlung verweigert, weil die Kapazitäten der Intensivstationen erschöpft waren. Die Regierungen dieser Länder sind jahrelang den Empfehlungen von »Experten« gefolgt, denen es nicht um ein gutes, öffentliches Gesundheitssystem geht, das allen Menschen unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten zugänglich ist, sondern um maximale Profite durch Kürzungen und Privatisierung. Während sich Politiker, Aktionäre und Industrielle in ihre Paläste zurückziehen, kämpfen Land- und Industriearbeiter*innen, Intellektuelle und Behördenangestellte, Ärzte und medizinisches Personal um Nahrung, Medizin, Transport, Reinigung, Kommunikation, Energie und notwendige Güter, um das Leben aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite spekulieren die Angehörigen der herrschenden Klassen, nutzen die Pandemie, um Preise zu erhöhen, verstecken Produkte, um künstliche Knappheit zu erzeugen, nutzen die Krise, um ihre Profite zu erhöhen.

 

 

Risikoanalyse bereits 2012

Bereits im Jahr 2012 machte sich die Bundesregierung über Risikoszenarien Gedanken und informierte den Bundestag über eine mögliche »Pandemie durch Virus ›Modi-SARS‹« (Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz, Bundestagsdrucksache 17/12051, S. 55 ff.). Das Risikoszenario 2012 hat viele Ähnlichkeiten mit dem aktuellen Corona-Prozess. Das betrifft die Ausbreitung der Erkrankung, ebenso die Folgen für Betriebe und Menschen. Schon damals wurde festgestellt, dass das Gesundheitssystem an seine Grenzen stoßen wird. Es ist zu fragen, warum aufgrund der Analyse nichts geschehen ist, warum keine Vorsorge getroffen wurde – im Gegenteil, das Gesundheitssystem wurde weiter runtergefahren. Ohne diese Risikoanalyse könnte man annehmen, dass sich niemand das Ausmaß so eines Desasters vorstellen konnte. Mit dem Bericht aus 2012 empfehlen sich andere – keine profitorientierten – Schlussfolgerungen.

 

 

Gesundheitswesen – profitabler Wirtschaftszweig

Auch in deutschen Krankenhäusern herrscht permanente Krise, obwohl sie im Verhältnis zu südeuropäischen Ländern beispielsweise mit Intensivbetten noch erheblich besser ausgestattet sind. Hauptverantwortlich dafür sind die diagnosebezogenen Fallpauschalen, die in den 2000er Jahren von Rot-Grün als Finanzierungssystem eingeführt wurden. Durch den enormen Kostendruck sind Personalschlüssel, Betten- und Laborkapazitäten sowie Lagerbestände drastisch verknappt worden. Was geschieht, wenn eine Pandemie dazukommt, sieht man aktuell. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder beschlossen daher am 12. März, dass alle planbaren Eingriffe in Kliniken verschoben werden sollen, soweit medizinisch vertretbar. Dafür wurde den Krankenhäusern ein Schutzschirm in Aussicht gestellt, der die wirtschaftlichen Verluste ausgleichen soll. Zahlreiche, vor allem private Kliniken, operierten dennoch weiter. Neue Kniegelenke bringen Profit, leergeräumte Betten nicht. Um das Versprechen des Schutzschirms einzuhalten, hätten die Fallpauschalen außer Kraft gesetzt, besser noch: abgeschafft werden müssen. Denn eine Finanzierung nach dem tatsächlichen Bedarf kennt das Fallpauschalensystem nicht. Das Ende März beschlossene Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz geht aber diesen Schritt nicht. Zwar sollen die Krankenhäuser mit finanziellen Anreizen dazu gebracht werden, Operationen zu verschieben und mehr Plätze auf den Intensivstationen zu schaffen, um die Kapazitäten zur Behandlung von Covid-19-Patienten zu erhöhen. Jedoch will Gesundheitsminister Spahn an der Finanzierung via Fallpauschalen festhalten, die die Spitäler auch in Krisenzeiten zwingt, betriebswirtschaftlich abzuwägen, so Steffen Stierle in der jungen Welt vom 26. März.

 

Das Gesundheitswesen hat sich in Deutschland zu einem großen Wirtschaftszweig entwickelt, in dem 5,5 Millionen Erwerbstätige mehr als elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Es geht um wirtschaftliche Interessen. Vor einem halben Jahr veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie, nach der die Versorgung der Patienten in Deutschland angeblich erheblich verbessert werden könnte, wenn mehr als jedes zweite Krankenhaus geschlossen würde. Die verbleibenden 600 Superkliniken könnten demnach deutlich mehr Personal und eine bessere Ausstattung erhalten.

 

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft DKG sieht solche Überlegungen kritisch. »Die derzeitige Situation macht deutlich, wie wichtig eine flächendeckende Krankenhaus- und Notfall-Versorgung ist«, sagte DKG-Präsident Gaß der FAZ. Seit zwei Jahrzehnten fehle aber das Geld, »um auf dem aktuellen und besten Stand« zu sein. In erster Linie sei das Aufgabe der Länder, doch sollte sich auch der Bund mit seinen beabsichtigten Konjunkturspritzen beteiligen, forderte Gaß.

 

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund monierte, die Klinikplanungen orientierten sich ausschließlich an der Wirtschaftlichkeit. Viel zu wenig würden Pandemiegefahren und die Notwendigkeit berücksichtigt, zusätzliche Behandlungsplätze auch in den Regionen vorzuhalten. »Der oft beklagte ›Bettenberg‹ ist im Ernstfall unverzichtbar, um die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens zu gewährleisten«, sagte Hauptgeschäftsführer Landsberg der FAZ.  Auch er verlangte, ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen.

 

Die privatisierungskritische Organisation Gemeingut in BürgerInnenhand fordert neben einem sofortigen Stopp von Krankenhausschließungen die Abschaffung des Fallpauschalensystems. Sie bat anlässlich des Weltgesundheitstages BürgerInnen und Bürger, sich mit entsprechenden Mails an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu wenden und startete eine Fotoaktion (www.gemeingut.org).

 

 

Feuerwehr wird auch nicht nach Bränden bezahlt

Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, sagte, eine »Just-in-time-Versorgung« funktioniere im Gesundheitswesen nicht: »Die Feuerwehr wird ja auch nicht nach Bränden bezahlt und schafft sich erst dann Feuerwehrautos an, sondern wir brauchen und finanzieren sie vorsorglich.« Eine genügende Bettenzahl in der Fläche sei auch deshalb nötig, um den Spezialkliniken für schwerere Erkrankungen den Rücken freizuhalten. Dennoch könnten in der Corona-Krise die Kapazitäten ausgeschöpft werden, dann müssten Eingriffe wie Hüftoperationen abgesagt werden.

 

Corona zeigt den Kapitalismus in seiner ganzen erschreckenden inhumanen Nacktheit. Im Gesundheitssystem steht nicht die Gesundheit der Bevölkerung im Mittelpunkt, sondern der Höchstprofit. Dass das kein Naturgesetz ist, zeigt das sozialistische Kuba.

 

Auch in Deutschland sind die 5,5 Millionen GesundheitsarbeiterInnen eine starke Macht, wenn sie sich organisiert wehren.

 

 

Der 82-minütige Film »Der marktgerechte Patient« von Leslie Franke und Herdolor Lorenz (Kernfilm) informiert über die Folgen des Fallpauschalensystems (http://der-marktgerechte-patient.org).