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Titel820

Abstand und Anstand  (Matthias Biskupek )

Ob der heute erwünschte Abstand auch morgen noch gilt? Heute sollen es zwei Meter sein, morgen vielleicht acht Fuß, wenn wir uns nach der Nation mit den meisten Krankheitsfällen zu richten haben. Heute wird uns erzählt, wir müssten soziale Distanz wahren, obwohl »sozial« kein Wort ist, das eine geometrische Dimension beschreibt. Denn baue ich zum Beispiel beim Telefonieren keine soziale Nähe auf? Das Ohr ist das Organ, das viel mehr als das Auge vom Partner mitzuteilen weiß. Jahrhunderte lang wurde eine soziale Beziehung durch den Briefwechsel begründet, erneuert, fortgeführt und auch beendet. Der hübsche Begriff »Federkrieg«, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts aus vielen Kontaktanzeigen hervorleuchtete, brachte die Widersprüchlichkeit der Beziehung von Menschen auf den sprachlichen Punkt. Das schmachtende Beschwören »Wir können uns leider nicht sehen!« kann heutzutage sofort ad absurdum geführt werden: Man skypt. Und weil viele den Tastsinn wie auch den wechselseitigen Austausch von Körperflüssigkeiten für die endgültige Verwirklichung menschlicher Beziehungen zu benötigen scheinen: Man kann sich die Daten der jeweiligen DNA senden, man kann befruchtete Embryonen weltweit und pfeilgeschwind (Amors Geschoss) übermitteln. Man kann durch einfachste Mittel (Telefonsex) bis zu hochkomplizierten Cyber-Beziehungen all das erreichen, was die Menschheit über Jahrhunderte und Jahrtausende sich wünschte, hoffte, erträumte und befürchtete, was höchstes Glück und tiefste Verzweiflung den Bürgern versprach. Längst schon hätte man auch die gegenseitige Geruchsbeglückung handhabbar und weltweit entwickelt – wenn nicht ein paar Gesundheitsapostel anderes für wichtiger ansähen. Die darauf dringen würden, statt Geruchsnähe zu erzeugen Krankheiten mit teuren Medikamentengaben zu bekämpfen. Man hat Antibiotika über Jahrzehnte hinweg entwickelt. Mit welchem Resultat? Sie sind heute viel zu billig. Und Billigheimer, das ergibt der Praxistest, wirken nicht mehr. Man müsste neue, teurere, endlich wieder wirksame Substanzen entwickeln. Was das kostet! Die Ökonomie hingegen fordert Gewinn. Schnellen Gewinn.

 

Damit sind wir beim zweiten Teil unserer gegenwärtigen, sich weltweit ausbreitenden Besonderheiten. Dem Anstand.

 

Dieses Wort wurzelt tief im 19. Jahrhundert und wurde noch lange, bis vor ein paar Jahrzehnten, genutzt. Dabei widerspricht es dem zeitgemäßen Handel und Wandel.

 

Diverse Administratoren verfügen, dass man sich mit Gesichtsmasken versehen solle. Das ist schön und gut, aber auch ein Wirtschaftsgut. Und wenn eine solche Gesichtsmaske in nicht pandemonischen Zeiten 30 Cent kostet, so schnellte der Preis mit Beginn der Krise auf 30 Euro. Auch Beatmungsgeräte erweisen sich als kostbar.

 

Manche Menschen fangen bei solchen Tatsachen an, mit dem Wort »Anstand« zu hantieren. Es sei doch nicht anständig, mit der Not der Menschen, also dem Mangel an Medizin und Gerät, ein Geschäft zu machen.

 

Womit, bitte, soll man sonst ein – sein – Geschäft machen?

 

Der ganz gewöhnliche Kapitalismus funktioniert nun mal über Angebot und Nachfrage. Seltene Güter steigen im Preis. Wenn man dieses Grundgesetz nicht mehr einhielte, wäre die ganze gut funktionierende marktförmige Demokratie zum Teufel. Ein bisschen Krankheit und schon geschieht das, was seit hundertfünfzig Jahren Parteien, Revolutionsverkünder und Zentralkomitees anstrebten und bisher kaum verwirklichen konnten: kommunistischer Sozialismus.

 

Soll denn der Anstand zur Lokomotive der Revolution werden? Ist »Anstand« nicht ein zutiefst bürgerliches Wort, einen Wert verkörpernd, der gleich neben Heimat und Rechtschaffenheit, Pünktlichkeit und ähnlichen Sekundärtugenden haust?

 

Davon wollen wir dann doch Abstand nehmen. Sei der nun zwei Meter oder acht Fuß groß.