Die Ausstellung »Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus«, 2004 für das United States Holocaust Memorial Museum in Washington gestaltet, nun bis zum 19. Juli im Jüdischen Museum Berlin zu sehen, präsentiert die Urheber der Eugenik, der »Vererbungslehre« und »Rassenhygiene«, der »Volksaufartung« und »Volksgesundheit«, und sie zeigt, wie für »unwert« erklärte Menschen ermordet oder für medizinische Versuche mißbraucht wurden – auch dies meist mit Todesfolge. Nachgewiesen wird das inhumane Denkschema hinter dem Versuch, einen höherwertigen, reinrassigen weißen Menschen zu züchten und die Fortpflanzung von »minderwertigen« Behinderten, Homosexuellen, Prostituierten und »Asozialen« zu verhindern, sowie als dessen Logik die massenhafte Zwangssterilisierung und Kastration und deren perfekte juristische Absicherung. Dem Massenmord an Juden, Sinti und Roma gingen die Morde an »Erbkranken«, an körperlich und geistig Behinderten sowie an sozial auffälligen Menschen voraus. Tatsächlich wurde das Personal der »Gemeinnützigen Stiftung Heil- und Pflegeanstalten« in Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein/Pirna zum größten Teil 1942 in die Vernichtungslager Treblinka, Sobibor und Belzec versetzt. Nicht allein das Vergasen und Verbrennen waren zu erledigen, sondern der Tod war auch zu verwalten (Standesamt, Nachlaß, Verwertung). Kontinuität der Vernichtungspolitik. Folge waren 400.000 Zwangssterilisationen, 300.000 bis 400.000 Euthanasiemorde (von Hitler 1939 als »Gnadentod« befohlen), 21.000 ermordete Sinti und Roma allein in Deutschland und Österreich und sechs Millionen ermordete Juden. Als Punkt aufs i sieht der Besucher am Schluß die Bilder der Täter, die sich der Verantwortung entziehen konnten oder mit milden Strafen davonkamen.
Die Fülle des überwiegend schriftlichen Materials ist kaum aufzunehmen. Die geplante intensive pädagogische Arbeit wird dem teilweise abhelfen können. Zur wissenschaftlichen Darbietung sind einige Anmerkungen zu machen. Gewöhnlich wird eine längere Pause zwischen zwei Präsentationen genutzt, um neue Erkenntnisse aufzunehmen. Das ist bei »Tödliche Medizin« auch deshalb angeraten, weil die Ausstellung für ein amerikanisches Publikum gestaltet worden war. Für nicht wenige Deutsche aber waren die Täter »der gute Doktor von nebenan«.
Stoff für eine Überarbeitung böten Publikationen der letzten Jahre, die die Verbrechen der Halbgötter in Weiß untersuchten und die Täter namhaft machten. Dazu gehören »Die Charité im Dritten Reich«, herausgegeben von Sabine Schleiermacher und Udo Schagen, »Das Robert-Koch-Institut im Nationalsozialismus« von Annette Hinz-Wessels und »Medizin im Dienste der Rassenideologie. Die Führerschule der Deutschen Ärzteschaft«, herausgegeben von Rainer Stommer (s. Ossietzky 16/08 und 5/09). Ihre Ergebnisse machen die Schwachpunkte der Ausstellung deutlich.
Unerklärlich ist, daß der Psychiater Karl Bonhoeffer, Ordinarius und Direktor der Psychiatrischen Klinik der Charité, ungenannt bleibt. Bonhoeffer, dem nach 1945 eine Gegnerschaft zum Naziregime zugeschrieben wurde, setzte sich bereits 1923 für die »Aufbesserung der genischen Erbwerte des Volkes« und die Unfruchtbarmachung »geistig Minderwertiger« ein und rechtfertigte nach 1945 die »genetische Aufbesserung späterer Generationen«. Robert Rössle, Pathologie-Direktor der Charité, befürwortete das Sterilisationsgesetz zwecks »Verhütung therapeutisch hoffnungslosen Nachwuchses«. Nach ihm ist die Klinik für Onkologie, Hämatologie, Tumorimmunologie in Berlin-Buch benannt.
Als Täter genannt wird der Genforscher Otmar Freiherr von Verschuer. Nicht erwähnt werden die Verbindungen zu seinem Assistenten Josef Mengele, der ihm aus Auschwitz Versuchsmaterial lieferte. Zwillinge, an denen Verschuer forschte, wurden nach den Experimenten im KZ getötet. Unerwähnt bleibt Ferdinand Sauerbruch, kein Eugeniker, aber als Gutachter des Reichsforschungsrates Befürworter der Experimente Verschuers und Mengeles. Diese Fakten wurden in dem Buch über die Charité breit diskutiert und gewertet. Daß aber die Ikonen der deutschen Ärzteschaft gerade hier im Zusammenhang mit Rassenwahn und Massenmord ausgeblendet sind, muß verwundern.
Die genannten Untersuchungen zeigen die tödliche Maschinerie von Nazipartei, Ministerien, Gerichten, Deutscher Forschungsgemeinschaft, Instituten, Universitäten, Kliniken und Heilanstalten, NS-Ärztebund, Kassenärztlicher Vereinigung, Wehrmacht, SS, HJ und so weiter. Sogar die Hebammen waren einbezogen: Sie erhielten zwei Reichsmark Belohnung für jeden gemeldeten »Erbkranken«. Gerade ein solches Netz garantierte das schnelle und lückenlose Funktionieren der Zwangssterilisationen, der Euthanasiemorde und der Judenvernichtung. In der Ausstellung bleibt die Systematik unterbelichtet.
Zur historisch-sozialen Komponente. Auf der ersten Tafel wird dem Besucher erklärt: »Viele Menschen glaubten, daß die sozialen Probleme der Moderne – Kriminalität, Alkoholismus oder geistige und körperliche Leiden – erblich bedingt waren und durch die Eugenik gelöst werden könnten.« Die Wissenschaftler hätten eine biologische Lösung für die Probleme der von Industrialisierung und Verstädterung gekennzeichneten Gesellschaft gesucht. Nach dieser Darstellung wäre nun eigentlich zu fragen, aus welchen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen heraus die Eugenik gerade in dieser Epoche entstehen und sich verbreiten konnte: Das Streben nach gewinnbringender Verwertung der massenhaft angebotenen Ware Arbeitskraft machte die Bourgeoisie empfänglich für die Eliminierung »unproduktiver Ballastexistenzen«, die den Staat nur »belasteten«. Verlockend war die Züchtung von leistungsfähigem Arbeitsvieh. Doch dieser Zusammenhang wird vernachlässigt, wodurch die Eugenik als folgerichtiges Produkt naturwissenschaftlichen Denkens erscheint. Entscheidend war das Expansions- und Ausbeutungsstreben des deutschen Imperialismus, wie er sich im Generalplan Ost widerspiegelte (s. Ossietzky 24/08). Zweck waren die Eroberung anderer Länder und Unterdrückung anderer Völker, letztlich der Profit.
Die Rassenhysterie der Nazis war ein brauchbares Mittel. Das Klarmachen dieser Zusammenhänge täte der Information des von Guido Knopp »vorgebildeten« deutschen Publikums gut. Das Begleitbuch aus dem Wallstein Verlag enthält erschütternde Beispiele des Schicksals von Kranken und Behinderten.
»Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus«, Jüdisches Museum Berlin, bis 19. Juli 2009. Begleitbuch im Wallstein Verlag, 9.90 €