erstellt mit easyCMS
Titel914

EU enträtseln: Fragen an Blogger Eurowahn  (Johann-Günther König)

Am 25. Mai findet die Wahl der 96 deutschen Volksvertreter ins sogenannte Europäische Parlament statt. Allerdings hat Europa bislang gar kein Parlament – sonst würden etwa die Norweger, Serben und Schweizer ja mit von der Wahl-Party sein … Das sogenannte Europaparlament wirkt ausschließlich als Parlament der 28 EU-Mitgliedstaaten und erweist sich bei Licht betrachtet als alles andere als ein klassisch demokratisches Organ der Unionsbürgerinnen und -bürger. Die geltenden EU-Verträge von Lissabon (2009) wollen es so. Noch Fragen? Ja:

Stimmt es, daß politische Witze im einstigen Ostblock immer mit einer Anfrage an den Sender Eriwan begannen?
Im Prinzip ja. Aber Wirkung entfalteten sie in der Europäischen Gemeinschaft, wo Kommissare, Korruption und Mißwirtschaft nicht von schlechten Eltern waren.

Es stimmt also, daß der Kapitalismus immer noch am Abgrund steht?
Im Prinzip ja. Aber wir sind bereits einen Schritt weiter.

Weiß man, wo Blogger Eurowahn sitzt?
Wozu soll das gut sein? Wissen schützt vor Torheit nicht, selbst in der Eurogruppe, dem informellen Gremium der Finanzminister, deren Währung die Eurokrise ist.

Ist es wahr, daß zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die EU nicht interessiert?
Unsinn. 2009 betrug die Beteiligung bei der EU-Parlamentswahl satte 43,3 Prozent.

Wer bleibt bei der EU grundsätzlich außen vor?
Im Prinzip der Rest der außereuropäischen Welt. Wobei keiner genau weiß, wo Europa anfängt und aufhört. In südamerikanischen Lehrplänen besteht die Erde jedenfalls nur aus den fünf Kontinenten Eurasien, Afrika, Amerika, Australien und Antarktika.

Gibt es eigentlich Länder, die nicht ins Unionsparadies wollen?
Im Prinzip nein. Ausnahmen bestätigen aber die Regel und sind irgendwie rational – gemeint sind die Schweiz, Island, Norwegen, Vatikanstadt, San Marino und die Fürstentümer Andorra, Liechtenstein und Monaco.

Und warum gehören Grönland, die Färöer und die Kanalinseln, die Isle of Man, Akrotiri und Dekelia nicht zum EU-Territorium?
Stellen Sie sich vor, diese herrlichen Flecken und Steueroasen wären dabei.

Hat die EU einen überzeugenden Wahlspruch?
Im Prinzip ja. Er lautet: In Vielfalt geeint. Zur EU gehören immerhin 28 Staaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Von den Überseegebieten ganz zu schweigen – denken Sie an Französisch-Guayana, Martinique, Guadeloupe, Réunion, Mayotte, die Kanaren, Azoren, Ceuta, Melilla und Madeira.

Kann ein Mitgliedstaat aus der EU hinausgeworfen werden?
Aus diesem Paradies kann keiner vertrieben werden. Gewisse Staaten werden vielleicht auf die feine englische Art »Good-bye!« sagen.

Was macht die EU eigentlich so unwiderstehlich?
Im Prinzip die Zukunft. Die EU ist in Eurasien das hinter China und Indien drittbevölkerungsreichste politisch formierte Vielvölkergebilde mit 500 Millionen Einwohnern und zwei Dutzend Amtssprachen. Als Eurasische Union wird sie eines Tages mit rund fünf Milliarden Unionsbürgern alle bisher gescheiterten Vielvölkerreiche in den historischen Schatten stellen.

Treten Profis bei Weltmeisterschaften als Unionseuropäer an?
In der Sportart Golf schon. Aber in allen anderen wichtigen Wettbewerben nicht. Denn wenn Deutschland nicht ein ums andere Jahr die Export-Europameisterschaft gewinnen würde, wäre laut Angela Merkel ganz Unionseuropa nicht mehr wettbewerbsfähig.

Gibt es Wichtigeres als das Interesse für EU-Belange?
Im Prinzip ja. Aber die deutschen Gemeinderäte, Beiräte, Kreistage und Länderparlamente, die Aus-schüsse, der Bundestag, Bundesrat und selbst das Verfassungsgericht sind in lebenswichtigen Fragen nicht mehr die entscheidenden Instanzen.

Trifft es zu, daß kaum jemand die EU-Verträge kennt?
Im Prinzip nein. Sonst würden Abgeordnete des Bundestags ja nicht nach einigen Seiten der Lektüre einnicken.

Eine Bekannte von mir sitzt im Europaparlament. Sie meint, der Vertrag von Lissabon sei voller lobenswerter Ziele. Hat sie recht?
Im Prinzip ja. Der griechisch sprechende Satiriker Lukian von Samosata schilderte aber schon vor zweitausend Jahren eine Schiffsreise zum Mond.

Gibt es bei uns in der EU wenigstens mehr Humor als anderswo?
Im Prinzip ja. Aber wir haben ihn auch bitter nötig.

Wer ist der größte Humorist in der Union?
Man weiß es nicht. Vielleicht EZB-Chef Mario Draghi. Bei den US-Investoren sorgte er neulich mit dem Befund für Lacher: »Europas Sozialmodell hat sich bereits aufgelöst.« Vielleicht der Kabarettist Volker Pispers: »Wir haben eine Demokratie. Und Sie kriegen in einer Demokratie keine Mehrheit für eine Politik, von der 90 Prozent der Bevölkerung profitieren würden.«

Kann die EU außenpolitisch mit den USA mithalten?
Im Prinzip ja. Sie hat einen Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik, dessen Handy wohl nicht von den US-Geheimdiensten abgehört wird.

Trifft es zu, daß die Hälfte der Mitglieder der EU-Kommission neoliberale Seelenverkäufer sind?
Im Prinzip nein. Mindestens die Hälfte der Kommissare fördert die marktradikale Angebotswirtschaft.

Schweißt der Stabilitäts- und Wachstumspakt die Mitgliedstaaten der EU endlich fest zusammen?
Kennen Sie Paktierer, die auch gute Schweißer sind?

Gibt es in der EU ein Beispiel für gelungene Solidarität?
Im Prinzip ja. Renault baut mit Nissan die nordspanischen Werke aus und schafft 1300 Jobs. Die spanischen Politiker und Gewerkschafter preisen ihr Verhandlungsgeschick, denn die Jahresarbeitszeit wurde dafür nur um drei Tage verlängert, die Löhne der Stammbelegschaft lediglich eingefroren und die 1300 neuen Kräfte erhalten immerhin 72 Prozent des Tariflohns. Daß Renault zugleich einige Tausend Stellen im Heimatland Frankreich opfert, konnte wirklich niemand verübeln.

Trifft es zu, daß die EU Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten treffen kann?
Im Prinzip ja. Aber das kann schnell nach hinten losgehen, weil die Unternehmen wettbewerblich ja so frei bleiben, ihre Standorte solange gegeneinander auszuspielen, bis schließlich alle verbliebenen Beschäftigten immer mehr, immer länger und immer flexibler arbeiten. Und dabei immer weniger verdienen.
Was ist der Unterschied zwischen Christentum und Austeritätspolitik? Das Christentum predigt Verzicht, die Austeritätspolitik verwirklicht ihn.

Kann man in der EU in Würde leben?
Im Prinzip ja. Aber wie soll das unter dem neuen Austeritätsregime gehen?

Aber es heißt doch in den Verträgen: Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

Selbstverständlich. Diese Werte sind einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichstellung von Frauen und Männern auszeichnet. So eine Gesellschaft gibt es aber in der Eurozone nicht.

Wurde wenigstens schon die Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht?
Man weiß es nicht so genau. Rein statistisch betrug 2011 das geschlechtsspezifische Lohngefälle im EU-Durchschnitt 16,2 Prozent. In Deutschland verdienten die Frauen glatte 22,2 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.

Soll man dem Gerede glauben, der Euro sei eine Fehlgeburt?
Im Prinzip ja. Bei der Geburt kam es zu Anomalien. In den meisten Mutterländern der Eurozone bluteten viele Arbeitsplätze aus, weil die öffentlichen Leistungen gekürzt werden mußten, um die teure medizinische Versorgung des Frühgeborenen sicherzustellen. Als der Euro aus dem Inkubator kam, diagnostizierten Banker prompt die Eurokrise.

Kann es sein, daß es im Euroraum nach Verwesung riecht?
Nein. Pecunia non olet – Geld stinkt nicht.

Aber es stimmt doch, daß wir in einer Schuldenunion leben?
Im Prinzip ja. Immerhin haben die Banken viele Billionen Euro in den Sand einer herbeispekulierten Fata Morgana gesetzt. Aber wenn die Euroländer den Banken keine fünf Billionen Euro zugesteckt hätten, wären die Staatsschulden nicht auf neun Billionen Euro gestiegen, gäbe es also gar keine Schuldenunion.

Stimmt es, daß wir Eurozonenbewohner laut Serge Halimi nur entscheiden dürfen, ob wir lieber das Messer des Bankiers an der Gurgel oder die Pistole des Tyrannen an der Schläfe spüren wollen?
Im Prinzip nein. Kanzlerin Merkel beschwört ja nicht zum Spaß die Alternativlosigkeit.

Trifft es zu, daß der Europäische Fiskalpakt alternativlos ist?
Im Prinzip ja. Aber das war auch der 1955 begründete Warschauer Pakt, und der implodierte nach 35 Jahren. Und aus dem hatte Albanien sogar wieder austreten können, während der Fiskalpakt keine Bestimmungen enthält, wie er gekündigt oder beendet werden kann.

Warum machen eigentlich Großbritannien und Tschechien nicht beim Fiskalpakt mit?
Sie wollen nicht mit all den EU-Staaten tauschen, die nun so voll auf die in ihre Verfassungen eingebauten Schuldenbremsen treten müssen, daß sie aus der Kurve fliegen.

Was ist der Unterschied zwischen einem EU-Optimisten und einem EU-Pessimisten?

Der Optimist plädiert für ein europäisches Grundeinkommen und klassenloses Gesundheitssystem, das allen einen ausreichenden sozialen Schutz und soziale Teilhabe gewährt. Der Pessimist zieht die Konsequenz aus der Unions- und Eurokrise und wandert nach Norwegen oder Australien aus.

An welchem Tag genau stirbt der Neoliberalismus?
Man weiß es nicht. Aber es wird ein Feiertag sein.

Dieser Beitrag beruht auf dem neuen Buch von Rudolf Hickel und Johann-Günther König: »EURO stabilisieren. EU demokratisieren. Aus den Krisen lernen«, Kellner Verlag, 288 Seiten, 16,90 €