erstellt mit easyCMS
Titel1015

Der erste Castor  (Wolfgang Ehmke)

Am 25. April 1995 war es soweit. Der erste Castor-Behälter traf in Gorleben ein. Er kam aus Philippsburg und enthielt abgebrannte Brennelemente aus dem Atomreaktor. 15.000 Polizisten »sicherten« den Transport.


Mehr als zehn Jahre lang war es zuvor durch einen Mix von Prozessen, Aktionen und politischer Intervention gelungen, den ersten Castor-Transport zu verhindern. Ab 1995 hieß es dann mindestens einmal im Jahr »Castor-Alarm«, man stellte sich quer, auf der Straße und – am Anfang sehr zögerlich – auf der Schiene. Tausende von Polizistinnen und Polizisten fielen immer wieder wie eine Armada ins Wendland ein.


Beim Beladen im AKW Philippsburg ging so einiges schief, was Angela Merkel, die damalige Umweltministerin, mit den Worten quittierte, das sei wie beim Kuchenbacken, da ginge auch schon mal etwas Backpulver daneben. Bei ihrem Besuch in Lüchow im März 1995 bekam sie dafür die Quittung, sie mußte wegen der Mehl- und Backpulverschwaden in der politisch aufgeheizten Luft den Tagungsort unter einem Regenschirm verlassen.


Im nachhinein wirkte das Geschehen rund um den ersten Castor wie das Einstudieren eines Rituals: Erst kam die Auftaktkundgebung in Dannenberg, dann ging es in Richtung Verladekran und an die Schiene, schließlich rollten Trecker, und Demonstranten versuchten »auf die Strecke« zu kommen. Gemeint waren damit die letzten 18 Straßenkilometer bis zum Zwischenlager in Gorleben, denn in Dannenberg mußten die Castor-Behälter von der Schiene auf Tieflader umgeladen werden, die von der Polizei bis ins Elbdorf eskortiert wurden.


Diese Blaupause enthielt schon alles, was die Folgejahre mit prägte: polizeiliche Übergriffe, Demonstrationsverbote, verhärtete Fronten zwischen Demonstranten und Polizei auf der einen Seite, Zivilcourage, Phantasie und Aktionskunst und eine nicht nachlassende Bereitschaft, »es immer wieder zu tun«, auf der anderen Seite.


Die Castor-Transporte haben das Leben im Wendland verändert. Es mutierte zum sozialen Ort, an dem während der »fünften Jahreszeit« – so genannt, weil immer im naßkalten und zum Teil frostigen November die Castoren gebündelt nach Gorleben geschickt wurden – die Anti-Atom-Bewegung sich für Protest und Widerstand rüstete und so überdauerte. Es ging nicht allein gegen den Castor und das mögliche Endlager im Salzstock Gorleben, es ging gegen die Nutzung der Atomkraft, die hier angeprangert wurde. Und mit der Ausweitung der Proteste auf die gesamte Transportstrecke ging es auch um die Forderung, die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente in La Hague und Sellafield zu beenden. Ein Entsorgungsbeitrag war es ohnehin nicht, es war ein Beitrag, um an Plutonium heranzukommen, den Bombenstoff.


Wer den Wald vor Bäumen bei der Errichtung von Barrikaden nicht sah, dem entging der erste Etappensieg. Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente wurde unter Rot-Grün gestoppt und das Plutoniumlager in Hanau 2004 geräumt. Und es mußte dann zu einem »Rendezvous mit der Geschichte« kommen, wie es Michael Müller (SPD) nannte, der sich heute alternierend mit Ursula Heinen-Esser (CDU) den Vorsitz der Endlagerkommission teilt, die über einen angeblichen Neustart der Endlagersuche berät. Die latent schlummernde atomfeindliche Stimmung im Lande explodierte, als es 2011 zur Havarie in Fukushima kam. Hunderttausende gingen in der Republik für den Atomausstieg auf die Straße. Das Ergebnis war ein Umsteuern der Bundesregierung, just als Angela Merkel in der Koalition mit der FDP eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke und das Ende des Moratoriums für den Ausbau des Erkundungsbergwerks Gorleben beschlossen hatte. Die Atomkraftnutzung wird hierzulande ab 2022 beendet sein. Was bleibt, ist aber mehr als die Erinnerung, es bleibt der jahrtausendelang tödlich strahlende Müll.


13 Mal schlug es 13, und 113 Behälter stehen derzeit im Gorlebener Tann. Zur Zeit gibt es einen Castor-Stopp, und die Ausbauarbeiten im Endlagerbergwerk ruhen. Doch der Gorleben-Konflikt ist noch lange nicht Geschichte. Der Energiekonzern E.on klagt und möchte 26 weitere Castor-Behälter mit hochradioaktivem Müll aus der Wiederaufbereitung in Gorleben einlagern. An einen wirklichen Neustart der Endlagersuche glaubt im Wendland niemand, solange der Salzstock Gorleben als Endlageroption mit »im Topf« ist. Die Endlagerkommission des Deutschen Bundestages, die mit der Endlagersuche befaßt ist, geht davon aus, daß ein Einlagerungsbetrieb in einem Endlager frühestens ab dem Jahr 2075 beginnen kann, bis dahin müßten jüngere Generationen auf der Hut bleiben.