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Titel1017

Wacht auf, Gewerkschaften im Lande!  (Conrad Taler)

Was unterscheidet den DGB von der AfD? Das ist keine Scherzfrage, und es sollen auch nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Ein Unterschied besteht unter anderem darin, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund sechs Millionen Mitglieder hat und die Alternative für Deutschland 26.000. Trotzdem macht die AfD fast jeden Tag von sich reden, während der DGB beziehungsweise die Gewerkschaften in den Medien kaum eine Rolle spielen, es sei denn bei Tarifverhandlungen oder am »Tag der Arbeit«. Haben sie sonst nichts zu sagen? Für den diesjährigen 1. Mai hatte sich der DGB-Vorstand das Motto ausgedacht: »Wir sind viele. Wir sind eins.« Warum hat er nicht gesagt: Wir sind sechs Millionen. Wir lassen nicht zu, dass die einen immer reicher und die anderen immer ärmer werden und dass mit dem Schicksal der Menschheit va banque gespielt wird.

 

Damit hätte er seine Kompetenzen nicht überschritten. Im Gegenteil. Die Gewerkschaften verstanden sich stets als friedenserhaltende und gestaltende Kraft, obwohl das Grundgesetz kein Wort über sie verliert. Über die Parteien heißt es dort auch nur, dass sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Alle Parteien haben zusammen halb so viel Mitglieder wie zum Beispiel die IG Metall. Nur 1,3 Prozent der Einwohner der Bundesrepublik gehören einer Partei an; der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder beläuft sich auf sieben Prozent. Trotzdem erwecken die Parteien den Eindruck, der Staat gehöre allein ihnen. Das ist nicht in Ordnung. Hier liegt einer der Gründe für die wachsende Kluft zwischen den Parteien und dem Wahlvolk; es fühlt sich von den Gewählten nur noch unzureichend vertreten.

 

Dass die AfD im übertragenen Sinne zur Hefe im Teig werden konnte, liegt am Hochmut und der Gefühllosigkeit, die nach Meinung vieler Menschen bei »denen da oben« vorherrschen. Daran sind die Gewerkschaften nicht schuldlos. Als Mitvollstrecker der Agenda-Politik Gerhard Schröders haben sie viel zu lange zu den sozialen Belastungen geschwiegen, die auf die sozial Schwachen herunterprasselten. Dabei hätten die Gewerkschaften den Bedrängten eine Stimme geben müssen. Wer kann denn heute auf Anhieb sagen, wie der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes heißt oder der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall? Die Namen Heinz Kluncker, Franz Steinkühler, Otto Brenner oder Heinz Vetter kannte früher jedes Kind. Sie haben entschieden die sozialen Interessen ihrer Mitgliedschaft vertreten und zu politischen Streitfragen mutig ihre Meinung gesagt, ob es um die Entspannungspolitik Willy Brandts ging, um die Abrüstung oder um die Notstandsgesetze.

 

Was hört man denn heute vom DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann oder vom IG-Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann zu den großen Streitfragen der Zeit? Zu den geplanten neuen Milliardenausgaben für die NATO etwa, zu den Milliarden für ein neues Raketenabwehrsystem und für neue Kriegsschiffe, die sich ja so trefflich eignen zur Abwehr von Terroranschlägen in den Einkaufszonen deutscher Städte. Und was hört man von ihnen zu dem Wort- und Kriegsgedröhn aus Washington, seit dort einer wie Donald Trump regiert? Was sagen sie dazu, dass deutsche Soldaten nach dem Afghanistan-Abenteuer, das täglich fast eine Million Euro gekostet hat, zu neuen Abenteuern nach Afrika geschickt werden? Sollen sie jetzt in Mali die Sicherheit Deutschlands verteidigen, so wie das am Hindukusch einst notwendig gewesen sein soll?

 

Im »Superwahljahr 2017«, so die Botschaft zum diesjährigen 1. Mai, wollen die Gewerkschaften die Themen setzen, die die Politik unbedingt angehen muss, um Deutschland »sozialer und gerechter zu machen«. Das hört sich gut an. Außerdem positioniert sich der DGB nach eigenem Bekunden »klar gegen rechts«. Auch gut. Da fangen die Gewerkschaften am besten bei sich selbst an. Reiner Hoffmann nannte es erschreckend, dass bei Landtagswahlen Gewerkschaftsmitglieder überproportional oft AfD gewählt haben. Nach einer Analyse von infratest-dimap ist der Arbeiteranteil unter den AfD-Wählern mit 33 Prozent so hoch wie bei keiner anderen Partei. Politische Schlafmützigkeit zahlt sich für die Gewerkschaften nicht aus. Wie heißt es doch bei Matthäus im Kapitel 4: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.«