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Titel1117

Im deutsch-deutschen Briefaustausch  (Peter Arlt)

Jürgen Lutzens malte in der Freizeit, denn der 1941 in Brandenburg geborene Künstler arbeitete als Gebrauchswerber und als freiberuflicher Werbe- und Ausstellungsgrafiker. Willi Sitte bestaunte seine Zeichnungen und bot ihm Konsultationen an, honorarfrei. So reiste J. L. 1965 viele Male als Sittes »Privatschüler« nach Halle. Erstaunlicherweise gab ihm sein Betrieb – er war Lehrausbilder – dafür eine Freistellung.

 

In Halle fühlte sich Jürgen Lutzens besonders wohl. Wie auch die anderen Künstler dort überzeugte es ihn keineswegs, dass jener stalinistisch überformte »Realismus« die fortschrittliche Gesellschaft zu repräsentieren vermag. Dass die abstrakte Kunst Ausdruck von Freiheit und Modernität sei, stellte sie und ihn andererseits auch nicht zufrieden. Lutzens‘ frühe Landschaften in der Ausstellung im Museum im Frey-Haus Brandenburg an der Havel zeigen, wie Jürgen Lutzens im Gefolge der halleschen Künstler zwischen Abstraktion und Realismus, mit hochkultiviertem Formbewusstsein und poetischer Bildsprache, ein Brandenburger Verwandter der halleschen Schule geworden war. Bei den späteren erotischen Frauendarstellungen huldigt J. L. voll Sehnsucht und Obsession der Frau als Ikone und Idol. In Gesprächen betonen Frauen, dass sie in dieser kurvenreichen und fettfaltigen Weiblichkeit eine plastische Vorstellung von sich erkennen, sich bestätigt und darin ihre Identität aufgehoben sehen.

 

Um beruflich der Künstlertätigkeit nachgehen zu können, fehlte Lutzens die Aufnahme in den Verband Bildender Künstler der DDR. Obwohl seine Arbeiten Professionalität besaßen, wurde er abgewiesen. Gerhard Altenbourg urteilte: »Ich fand Ihre Arbeiten als wesentlich«, und er tröstet ihn: »In Ihnen ruhen jedoch Dinge, die sich künftig einmal realisieren wollen.«

 

In den ausgebreiteten Briefschaften, ein Ergebnis des passionierten Briefschreibers Lutzens, können viele Antwortbriefe in den Vitrinen gelesen werden. Man erfährt, wie Gerhard Marcks »im Westen eine Überschwemmung […] durch abstrahierende Ideen« bemerkte oder Heinz Trökes bestätigte, »dass der Rückgriff auf Realität, Traum, Märchen und freie Phantasie kunstträchtiger ist als bloßes ästhetisches Formen- und Farbenspiel«.

 

Seinen »Drang, (sein) Wissen über Kunst und Literatur universell zu gestalten«, bewunderte an ihm der deutschbelgische Manierismusforscher Gustav René Hocke und würdigte Lutzens‘ Forschungslust als ein Exempel: »Die menschlichen Voraussetzungen der zeitgenössischen Kunst zu eruieren, wird ja auch in der DDR zu einer noblen Gesinnung«; er gehöre zu den Menschen, »die den Weg einer geistigen Versöhnung suchen«.

 

Zwar ist ihm gelungen, gleichsam parallel zum eigenen künstlerischen Tun, eine »Sammlung zum Thema Akt und Erotik« zusammenzubitten, doch sie ist inzwischen verschwunden.

 

Mit seinen schönen und ausführlichen Briefen gewann er als wohl einer der ersten in der DDR Auskünfte über die Arbeiten vieler westlicher Künstler. Er entwickelte sich zum Kunstkenner, der von den Kronzeugen der Kunstentwicklung Wesentliches erfuhr und zwischen ihnen vermitteln konnte. Wegen seines Engagements und weil er »so gescheit und bestens informiert und interessiert an Literatur und Malerei« schreiben konnte, sah Tut Schlemmer für ihn eine Bestimmung: Er »sollte in ein Kulturamt berufen werden, um die Gegensätze von hüben und drüben auszugleichen und abzubauen«. Lutzens‘ Briefe an viele Künstler tragen, so der Begründer des deutschen Informel Bernard Schultze 1966, »ein wenig dazu bei, dass das Gespräch zwischen DDR – Bundesrepublik zustande kommt«. Durch seine aktive Korrespondenz wurde J. L. eine Adresse für künstlerische, kunstpolitische Mitteilungen der Künstler untereinander.

 

Von 1962 an wurde Lutzens ein Botschafter im deutsch-deutschen Briefaustausch mit mehr als 30 Künstlern und Kunstwissenschaftlern im Westen, die er über das Kunstleben der DDR in Kenntnis setzte und denen er zeigte, dass sich auch in der DDR Kunst durchsetzt. »Mich interessiert das alles sehr, was Sie über die jungen Künstler der Ostzone berichten […], denn mir fehlt jedes originale Wissen«, so schrieb der Direktor der Westberliner Nationalgalerie Werner Haftmann 1967. Die Staatsgalerie Stuttgart bedankte sich für die Übersendung des Kataloges »Handzeichnungen«, den Lothar Lang 1967 im Kunstkabinett herausgebracht hatte, und der von den besten Künstlern der DDR, wie man in Stuttgart sah, die »reichen Möglichkeiten und Funktionen des Zeichnens überhaupt« ausbreitete. Die bemerkenswerte, unablässige Freundschaft zu dem herausragenden älteren Brandenburger Maler Curt Ehrhardt, dem er Bücher und Kataloge zeigte und lieh, bezeugen Lutzens‘ Briefe im Archiv des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg.

 

In einem Brief zeigte sich J. L. »überrascht – natürlich hoch erfreut« von der Veröffentlichung Oskar Kokoschkas in »unserer Weltbühne […] zum Nutzen der jungen Künstler« (1966).

 

Durch die Geschichte des Briefwechsels wird erhellt, welches Bedürfnis auf beiden Seiten bestand, miteinander ins Gespräch zu kommen.

 

Die Erfahrung aller, dass Postsendungen nicht ankommen, ließ sie resignieren. Wilhelm Loth klagte: »Durch meine Freundschaft mit Käthe Kollwitz stand ich dem Sozialismus immer nahe. Er war für mich quasi eine andere Bezeichnung für Menschlichkeit. Jetzt fühle ich mich schrecklich vor den Kopf gestoßen« (1971). Das Thema der Störmanöver der DDR gegen den friedlichen kulturellen Austausch sei mit der ironischen Bemerkung von Gerhard Marcks abgeschlossen: »Mao sagt: der Tiger macht aus Angst Angst« (1969).

 

 

»Sehnsucht und Obsession in Bildern und Briefschaften. Jürgen Lutzens«, bis 11. Juni im Stadtmuseum im Frey-Haus, Ritterstraße 96, Brandenburg an der Havel, Katalog (52 Seiten, 8 €)