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Chancen eines Manifests  (Georg Fülberth)

Das von Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat unter dem Titel »Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!« vorgelegte »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« ist menschenfreundlich, vernünftig und in einem Anhang überzeugend durchgerechnet. Dennoch mag es ältere Leserinnen und Leser dieses Dokumentes geben, die verzagt reagieren: Die hier dargebotenen Zahlen seien zwar neu, die Grundsatz-Argumentation aber sei es nicht und habe sich seit Jahrzehnten nicht durchsetzen können. Warum also jetzt eine Wiederauflage?

Als Mitte der 1970er Jahre die Massenarbeitslosigkeit begann, eröffneten einige Gewerkschaften – besonders die IG Metall und die damalige IG Druck und Papier – eine Offensive für Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich. Der letzte große Streik in diesem Zyklus fand 1984 statt, und es wurden sogar Erfolge erzielt: je nach Branche 35 oder 38,5 Stunden. Danach lief diese Bewegung allmählich aus. In dem Maße, in dem Kapital sich aus der Produktion in die Finanzindustrie zurückgezogen hatte, waren die Kampfbedingungen für die Gewerkschaften schlechter geworden. Inzwischen hat sich der seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts anhaltende Trend zur Verkürzung der regulären Wochenarbeitszeit umgekehrt: Da und dort wird wieder vierzig Stunden und mehr gearbeitet. Die gesunkene Kampfstärke und -bereitschaft der Gewerkschaften ist nicht die Ursache einer solchen Entwicklung, sondern sie geht ebenso wie diese auf die ständig wachsende Überlegenheit des Kapitals zurück: Dessen Mobilitätsvorsprung vor der Arbeit (sei es beim Ausweichen in die Finanzsphäre, sei es durch die Verlagerung von Produktionsstätten) ist immer größer geworden. Der Unternehmer-Igel ruft dem Gewerkschafts-Hasen nicht etwa zu: »Ick bin all dor!«, sondern: Ich bin mal weg.

Dennoch ist die Lage nicht völlig hoffnungslos. Wenn der Arbeiterbewegung keine neue Beschäftigungspolitik gelingt, schafft dies vielleicht das Kapital.

Ja doch, das Kapital. Solange es sich ungehindert ausbreiten und durchsetzen kann, ist es nicht lernfähig. Anders könnte es aber werden, sobald die Gefahr sich abzeichnet, daß es sich totsiegt. So war es am Ende der Industriellen Revolution, als es die Arbeitskraft so weit zu ruinieren drohte, daß vorstellbar wurde, diese werde ihm nicht mehr in genügendem Umfang zur Verfügung stehen. Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die ihm damals entgegentraten, gewannen deshalb an Stärke, weil ihr Kampf auch einem systemimmanenten Bedarf an Regulierung entsprach.

Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, erfüllt die Ökologie-Bewegung dieselbe Funktion für die notwendige, auch kapitaldienliche Neuorganisation des Stoff- und Energiehaushaltes. Auch hier gibt es Rückschläge, nach denen es dann aber wieder weitergeht. Erinnern wir uns daran, wie die vier großen Energiekonzerne 2010 die Regierung vorführten und es ihnen zu gelingen schien, den Atom-Ausstieg zu verhindern. Dann kam Fukushima, und jetzt sieht es schon wieder anders aus.

Oder ein älteres Beispiel: Seit Mitte der fünfziger Jahre war die Anerkennung der DDR und der deutschen Nachkriegsgrenzen eine hoffnungslos isolierte Forderung der Kommunisten und einiger Pazifisten. Als sie einer gewandelten Strategie der USA, dem Wunsch deutscher Kapitalisten nach Ausbreitung auf Ost-Märkten und der Außenpolitik der Regierung Brandt/Scheel (und sei es auch nur, um auf einem neuen Weg die Zweistaatlichkeit zu überwinden) entsprach, wurde sie zum Gewinner-Thema.

Heute gibt es neben dem Green New Deal ein zweites großes Reformprojekt: die Regulierung der Finanzmärkte. Selbst Spekulationsweltmeistern wie George Soros ist längst angst und bange angesichts der Gefahr, daß große Vermögen auf demselben windigen Weg, auf dem sie gewonnen wurden, verloren gehen werden. Kapitalismus braucht einigermaßen kalkulierbare (auch: Finanz-)Märkte. Die Flucht großer Geldmassen in die Zirkulation könnte absehbar dysfunktional werden. Müssen sie in die Produktion zurück, wächst die Nachfrage nach Arbeitskraft, damit vielleicht auch die Stärke der Gewerkschaften. Die werden es allerdings zunächst mit dem Versuch zu tun haben, Sinken der Rendite in der Spekulation durch weiteren Druck auf die Löhne und Ausschlachtung des Staates aufzufangen. Aber dieses Abenteuer könnte ebenfalls an Grenzen stoßen: Sinken der Nachfrage ist auf Dauer auch schlecht für den Profit.

Es sind also künftige Situationen vorstellbar, in denen das »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« eine Chance zur Verwirklichung hat.

Das Manifest ist als Ossietzky-Sonderdruck erschienen, zu bestellen beim Verlag. Preis: 2 €, bei Abnahme von mindestens zehn Heften 1,50 € (plus Versandkosten). Wir werden die Diskussion über die Initiative für Vollbeschäftigung durch Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit auf höchstens 30 Stunden ohne Lohnverlust fortsetzen.