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Ein parlamentarischer Mob  (Uri Avnery)

Als ich zum ersten Mal in die Knesset gewählt wurde, war ich entsetzt über das, was ich vorfand. Der intellektuelle Inhalt der Debatten lag, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nahe Null. Er bestand hauptsächlich aus Klischees. Während der meisten Debatten war das Plenum fast leer. Bei Abstimmungen hatten viele Abgeordnete keine Ahnung, worüber sie pro oder contra stimmen sollten – sie folgten einfach den Ordern ihrer Partei.

Das war 1967, als der Knesset immerhin noch Politiker wie Levy Eshkol und Pinhas Sapir, David Ben Gurion und Moshe Dayan, Menachem Begin und Yohanan Bader, Meir Yaari und Yaakov Chazan angehörten, nach denen heute Straßen und Vororte benannt werden.

Im Vergleich zur gegenwärtigen Knesset erscheint die damalige wie Platons Akademie. (…) Jetzt gedeiht die Produktion unverantwortlicher Gesetze, von denen die meisten rassistisch und anti-demokratisch sind. Je mehr sich die Regierung selbst in eine Versammlung politischer Parteibonzen verwandelt, um so geringer wird ihre Fähigkeit, solche Gesetzgebung zu verhindern, Die gegenwärtige Regierung, die größte, die minderwertigste und verachtetste in Israels Geschichte, arbeitet mit den Knesset-Mitgliedern zusammen, um solche Gesetzesvorlagen einzureichen, ja sie sogar selbst zu initiieren.

Einzig verbliebenes Hindernis ist der Oberste Gerichtshof. Da wir keine Verfassung haben, hat er sich die Vollmacht genommen, skandalöse Gesetze, die die Demokratie und die Menschenrechte verletzen, zu annullieren. Aber der Oberste Gerichtshof wird selbst von rechten Extremisten belagert, die ihn zerstören wollen. Er verhält sich deshalb sehr zurückhaltend und interveniert nur in extremen Fällen.

So hat sich eine paradoxe Situation ergeben: Das Parlament, der höchste Ausdruck von Demokratie, ist jetzt selbst zu einer ernsthaften Bedrohung der israelischen Demokratie geworden.

Der Mann, der dieses Phänomen mehr als jeder andere personifiziert, ist das Knesset-Mitglied Michael Ben-Ari von der Partei »Nationale Union«, dem Erbe von Meir Kahane, dessen Organisation »Kach« ist wegen ihres offen faschistischen Charakters verboten worden war. Kahane wurde nur einmal in die Knesset gewählt. Damals reagierten die anderen Abgeordneten eindeutig: Wann immer er aufstand, um das Wort zu ergreifen, verließen fast alle den Saal . Der Rabbiner mußte seine Rede vor einer handvoll ultra-rechter Kollegen halten.

Vor ein paar Wochen besuchte ich die derzeitige Knesset das erste Mal seit ihrer Wahl. Ich ging hin, um einer Debatte zuzuhören, die auch mich betraf: die Entscheidung der Palästinenserbehörde, die Produkte der Siedlungen zu boykottieren – viele Jahre, nachdem die Friedensgruppe Gush Shalom diesen Boykott gestartet hatte. Ich verbrachte ein paar Stunden in dem Gebäude, und von Stunde zu Stunde wuchs mein Widerwille.

Der Hauptgrund war eine Tatsache, die mir bis dahin nicht bewußt gewesen war: Ben-Ari, Kahanes Schüler und Bewunderer, läßt sich dort feiern. Er ist kein isolierter Außenseiter am Rande des parlamentarischen Lebens, wie es sein Mentor gewesen war. Im Gegenteil, er steht im Mittelpunkt. Ich sah, wie Mitglieder fast aller Fraktionen sich in der Cafeteria um ihn scharen und wie sie ihm und seinem endlosen Gerede im Plenum mit gespannter Aufmerksamkeit lauschen. Zweifellos hat sich der Kahanismus – eine israelische Version von Faschismus – vom Rand ins Zentrum bewegt.

Vor kurzem ist das Land Zeuge einer Szene geworden, die so aussah, als hätte sie sich im Parlament von Südkorea oder Japan abgespielt. Am Rednerpult stand die Abgeordnete Hanin Soabi von der arabisch-nationalistischen Balad-Fraktion und versuchte zu erklären, warum sie sich der Gaza-Hilfsflotille angeschlossen hatte, die von der israelischen Marine angegriffen worden war. Anastasia Michaeli, Mitglied der Lieberman-Partei, sprang von ihrem Sitz auf und lief mit grauenerregenden Schreien und erhobenen Armen auf das Podium zu, um Hanin Soabi mit Gewalt von dort wegzuziehen. Andere Mitglieder erhoben sich von ihren Sitzen, um Michaeli zu helfen. Neben der Rednerin versammelte sich ein drohendes Knäuel von Knesset-Mitgliedern. Nur mit großer Mühe gelang es Saalordnern, Soabi vor körperlichem Schaden zu bewahren. Eines der männlichen Parlamentsmitglieder schrie sie in einer Mischung von Rassismus und Sexismus an: »Geh nach Gaza und sieh, was man dort mit einer 41jährigen unverheirateten Frau tun wird!«

Es hätte keinen größeren Unterschied zwischen zwei weiblichen Knesset-Mitgliedern geben können. Während Hanin Soabi aus einer Familie aus der Gegend Nazareths kommt, deren Ursprünge Jahrhunderte zurückreichen, vielleicht bis in Jesu Zeiten, wurde Anastasia Michaeli im (damaligen) Leningrad geboren. Sie wurde zur Miss Sankt Petersburg gewählt, arbeitete dann als Mannequin, heiratete einen Israeli, konvertierte zum Judentum und immigrierte mit 24 nach Israel, behielt aber ihren sehr russischen Vornamen bei. Sie wurde Mutter von acht Kindern. Sie könnte eine israelische Sara Palin sein, die schließlich auch eine Schönheitskönigin war.

Soweit ich ausmachen konnte, hat sich kein einziges jüdisches Mitglied erhoben, um Soabi während des Tumultes beizustehen. Nichts als ein paar schwache Proteste des Knesset-Präsidenten Reuven Rivlin und des Abgeordneten Chaim Oron von der Meretz-Fraktion.

In all den 61 Jahren ihrer Existenz hat die Knesset keinen solchen Anblick geboten. Innerhalb einer Minute verwandelte sich die souveräne Versammlung in einen parlamentarischen Lynchmob.

Man muß nicht die Ideologie der Balad-Partei teilen, um die beeindruckende Persönlichkeit von Hanin Soabi zu respektieren. Sie spricht fließend und gut (auch hebräisch), hat akademische Grade von zwei israelischen Universitäten, kämpft für die Rechte der Frauen innerhalb der israelisch-arabischen Gesellschaft und ist das erste weibliche Mitglied einer arabischen Fraktion in der Knesset. Die israelische Demokratie könnte stolz auf sie sein. Sie kommt aus einer arabischen Großfamilie. Der Bruder ihres Großvaters war Bürgermeister von Nazareth und ein Onkel stellvertretender Minister, ein anderer Richter am Obersten Gerichtshof. (1967, an meinem ersten Tag in der Knesset, schlug ich ein anderes Mitglied der Soabi-Familie für die Wahl zum Knesset-Präsidenten vor.)

In dieser Woche entschied eine große Mehrheit der Knesset, einen Vorschlag von Michael Ben-Ari anzunehmen, der vom Likud und von Kadima-Mitgliedern unterstützt wurde: der Abgeordneten Hanin Soabi die parlamentarische Privilegien zu entziehen. Vorher hatte der Innenminister sogar den Rechtsberater der Regierung um die Genehmigung seines Planes gebeten, Soabi wegen Hochverrats die israelische Staatbürgerschaft zu entziehen. Eines der Knesset-Mitglieder schrie sie an: »Du gehörst nicht in die israelische Knesset! Du hast kein Recht, einen israelischen Ausweis zu tragen.!«

Am selben Tag befaßte sich die Knesset mit einer Aktion gegen den Gründer von Zoabis Partei, Asmi Bishara. Bei einer ersten Anhörung genehmigte sie einen Gesetzesentwurf – auch dieser vom Likud und von Kadima-Mitgliedern unterstützt –, der dahin zielte, Bisharas Pension zu streichen, auf die er nach seinem Rücktritt aus der Knesset ein Recht hat. (Er ist im Ausland geblieben, nachdem ihm mit einer Anklage wegen Spionage gedroht worden war.) Die stolzen Eltern dieser Initiativen, die massive Unterstützung auch von allen religiösen Fraktionen erhielten, verbargen ihre Absicht nicht, alle Araber aus dem Parlament zu vertreiben, um endlich eine rein jüdische Knesset zu errichten. Die letzten Entscheidungen der Knesset sind nur Teil einer seit langem andauernden Kampagne, die fast jede Woche neue Initiativen öffentlichkeitshungriger Mitglieder hervorruft, die wissen, daß sie, je rassistischer und antidemokratischer ihre Gesetzesentwürfe sind, bei vielen Wählern um so populärer werden .

Ein Beispiel ist die vor einigen Tagen getroffene Knesset-Entscheidung, den Erwerb der Staatbürgerschaft an die Bedingung zu knüpfen, daß der Kandidat einen Eid auf Israel als einen »jüdischen und demokratischen Staat« schwört. Das würde bedeuten, daß Araber (besonders ausländische arabische Ehepartner arabischer Bürger) sich der zionistischen Ideologie unterwerfen. (US-Äquivalent wäre die Forderung an neue amerikanische Bürger, einen Eid auf die USA als einen »weißen, angelsächsischen protestantischen Staat« abzulegen.)

Es scheint keine Grenzen der parlamentarischen Unverantwortlichkeit zu geben. Alle roten Linien sind schon vor langer Zeit überschritten worden. Dies betrifft nicht nur die parlamentarische Vertretung von mehr als 20 Prozent der Bürger Israels. Es gibt eine klare Tendenz, allen arabischen Bürgern die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Diese Tendenz ist mit dem anhaltenden Angriff auf den Status der Araber in Ost-Jerusalem verbunden.

In dieser Woche war ich auch bei einer Gerichtsverhandlung im Jerusalemer Amtsgericht wegen der Verhaftung von Muhammed Abu-Ter, einem der vier Hamasmitgliedern im palästinensischen Parlament von Jerusalem. Die Verhandlung wurde in einem winzigen Raum abgehalten, in dem nur etwa ein Dutzend Zuhörer Platz hatten. Mir gelang es nur mit großen Schwierigkeiten hineinzukommen.

Nach dem Oslo-Abkommen ist die israelische Regierung ausdrücklich verpflichtet, den Arabern Ost-Jerusalems die Teilnahme an demokratischen Wahlen zu erlauben. Doch kaum waren sie gewählt, verkündete ihnen die Regierung, ihr Status als »permanente Bewohner« sei widerrufen worden.

Was bedeutet das? Als Israel Ost-Jerusalem 1967 annektierte, dachte die Regierung nicht im Traume daran, den Bewohnern das Bürgerrecht zu geben, was den Prozentsatz arabischer Wähler in Israel bedeutend vergrößert hätte. Man erfand auch keinen neuen Status für sie. Da andere Alternativen fehlten, wurden die Einwohner zu »permanenten Bewohnern «, einem Status, den man Ausländern gibt, die in Israel wohnen bleiben wollen. Der Innenminister hat das Recht, diesen Status zu widerrufen und solche Leute in das Land ihres Ursprungs zu deportieren. Natürlich paßt diese Definition des »permanenten Bewohner« nicht für die Einwohner Ost-Jerusalems. Sie und ihre Vorfahren wurden hier geboren. Sie haben keine andere Staatsbürgerschaft und keinen anderen Wohnort. Der Widerruf ihres Status’ macht sie zu politisch Heimatlosen, die nirgendwo hingehören und ohne irgend einen Schutz sind.

Der Staatsanwalt behauptete vor Gericht, daß mit dem Streichen seines Status als »permanenter Bewohner« Abu-Ter eine »illegale Person« geworden sei. Dessen Weigerung, die Stadt zu verlassen, rechtfertige unbegrenzte Haft.

Wenn einige Leute versuchen, sich selbst etwas vorzumachen und glauben, dass der parlamentarische Mob »nur Araber« verletzen will, dann haben sie sich sehr geirrt. Die Frage ist: »Wer kommt als nächstes dran?

In dieser Woche nahm die Knesset in erster Lesung einen Gesetzesentwurf an, der schwere Strafen über Israelis verhängt, die sich für einen Boykott Israels im allgemeinen und auf wirtschaftliche Unternehmen, Universitäten und andere israelische Institutionen, einschließlich Siedlungen im Besonderen aussprechen. Jede dieser Institutionen ist berechtigt, einen Schadenersatz von 5000 Dollar von jedem Unterstützer des Boykotts zu verlangen.

Ein Aufruf zum Boykott ist ein demokratisches Ausdrucksmittel. Ich bin gegen einen allgemeinen Boykott Israels, aber (nach Voltaire) bin ich bereit, dafür zu kämpfen, dass jeder das Recht hat , zum Boykott aufzurufen. Das wirkliche Ziel der Gesetzvorlage ist natürlich, die Siedlungen zu schützen. Es ist dafür bestimmt, diejenigen abzuschrecken, die zu einem Boykott der Produkte von Siedlungen aufrufen, die außerhalb der 1967er-Grenze im besetzten Land bestehen. Dies schließt mich und meine Freunde ein.

Seit seiner Gründung rühmt sich Israel, die »einzige Demokratie im Nahen Osten« zu sein. Dies ist ein Juwel in der Krone der israelischen Propaganda. Die Knesset ist das Symbol der Demokratie. Es scheint, daß der parlamentarische Mob, der die Knesset übernommen hat, entschlossen ist, dieses Image ein für alle Mal zu zerstören, so daß Israel seinen eigentlichen Platz irgendwo zwischen Libyen, dem Jemen und Saudi Arabien finden wird.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)