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Titel1620

Über Gräbern weht der Wind  (Heinrich Hannover)

Im Jahr 1943 waren wir 17-jährigen Schüler der Lilienthal-Oberschule in Anklam noch nicht reif für das Abitur, aber reif für den Kriegsdienst. Wer nicht riskieren wollte, zur Waffen-SS eingezogen zu werden, musste sich »freiwillig« zu einer erwünschteren Waffengattung melden. So kam ich als damaliger, in Pommern zugelassener Forstanwärter zur »Division Hermann Göring«.

 

Mein erster Fronteinsatz fand im Januar 1944 in Italien statt, das nach dem Sturz Mussolinis nicht mehr mit Hitler-Deutschland verbündet, sondern Feindesland geworden war. Südlich von Rom hatten amerikanische Truppen den Brückenkopf bei Nettuno gebildet. Als wir in Rom ankamen, empfing uns die Nachricht, dass ein Kamerad, der in der Ausbildungskompanie in den Niederlanden auf meiner Stube gelegen hatte und in einem früheren Transport einige Tage vor uns in Italien eingetroffen war, bei seinem ersten Fronteinsatz umgekommen war. Er war auf eine Mine gelaufen. Er hatte eine schöne Tenorstimme und uns oft mit sentimentalen Liedern wie »Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen« erfreut. Wir erfuhren, dass er auf dem Sterbebett einen Brief an seine Eltern diktiert hatte, der nach seinem Tod vor der Kompanie als mustergültig verlesen wurde, ein Hohelied auf den Sinn seines Lebens und Sterbens im Sinne der damals herrschenden Ideologie. Wenn er länger hätte leben dürfen, wäre aus ihm wahrscheinlich ein Sänger von Pete Seegers Lied »Sag mir, wo die Blumen sind« geworden, aus dem ich eine Zeile als Überschrift dieses Textes gewählt habe.

 

Unser Leben ging mit dem bewaffneten Kampf gegen amerikanische Soldaten weiter, die sich dieses mörderische Handwerk ebenso wenig wie wir ausgesucht hatten. Da standen wir in Schützenlöchern, die wir bei Dunkelheit in geringer Entfernung gegenüber einer amerikanischen Schützenlinie gegraben hatten. Den dazu nötigen Klappspaten hatte ich mir von einem Kameraden geliehen, da er in meiner Ausrüstung fehlte. Er war im Stellungskrieg ein lebenswichtiges Gerät. Etwa 50 Meter entfernt lag im Schussfeld der verfeindeten Linien ein toter amerikanischer Soldat mit einem Klappspaten am Gürtel. Den musste ich haben. Es war gewagt, in der Nacht zu dem toten Soldaten zu robben, denn man musste damit rechnen, dass die Amerikaner in der Nacht versuchen würden, ihren toten Kameraden zu bergen. Was würde bei einer nächtlichen Begegnung der Feinde geschehen? Aber ich hatte Glück und kam den Amerikanern zuvor, nahm den Klappspaten und kehrte heil zurück. Dem unbekannten toten Kameraden, der mir zu einem Klappspaten verholfen hatte, bewahrte ich ein dankbares Angedenken.

 

Der Aufenthalt im Schützenloch war nicht angenehm. Die uns gegenüber eingegrabenen Amerikaner entdeckten die vor unseren Schützenlöchern aufgeworfenen Erdhügel und gaben ab und zu Schüsse ab, die Erde aufwirbelten. Da zog man den Kopf ein und konnte stundenlang darüber nachdenken, was passieren würde, wenn amerikanische Panzer über unsere Schützenlöcher rollen und sich darüber drehen und uns zermalmen würden. Unser einziger Schutz war, dass die Amerikaner nicht wussten, wie schutzlos wir ohne panzerbrechende Waffen waren.

 

Dasselbe galt für eine schlaflose Nacht auf dem Bahndamm von Littoria, wo wir die Erweiterung des amerikanischen Brückenkopfes nach dem Prinzip der Abschreckung verhinderten. Da wurden wir in loser Reihe hin- und hergescheucht, statt zu schlafen, und mussten von Zeit zu Zeit Schüsse in die Richtung abgeben, aus der wir beschossen wurden, ohne einen Feind zu sehen. Erst aus einem Buch von Gerhard Zwerenz, das ich lange nach dem Krieg las, erfuhr ich, dass wir eine zusammenhängende Schützenlinie vortäuschen sollten.

 

Als MG-Schütze 3 war ich für das Tragen von Munitionskästen zuständig. Ich schleppte zwei Kästen, von denen jeder zehn Kilo wog, viel zu schwer für eine noch im Wachsen befindliche Wirbelsäule. Ich war schließlich so erschöpft und außer Atem, dass ich mit meiner Gruppe nicht Schritt halten konnte und weit zurückblieb. Der Bahndamm lag unter Granatwerferbeschuss. Aber ich war schließlich zu erschöpft, um mich jedes Mal, wenn sich eine Granate heulend näherte, hinzuwerfen und nach der Explosion wieder aufzustehen. Ich erinnere mich deutlich an meinen Gedanken: Wenn mich eine Granate trifft und verwundet oder tötet, ist diese Quälerei vorbei.

 

Da fand mich einsam einherstapfenden Soldaten mein Kompanieführer, Leutnant Eichhorn, und ich machte mich auf einen »Anpfiff« gefasst. Aber der freundliche, aus dem Mannschaftsstand zum Offizier aufgestiegene Mensch erkannte meine körperliche Schwäche und sprach mir Mut zu. Auch an ihn denke ich dankbar zurück. Aber zugleich mit traurigen Gedanken und Gefühlen, denn er ist einen Tag nach der Begegnung zu Tode gekommen.

 

Es war wohl am selben Tag, als ich mich beim Arzt meldete, um ihm meine infolge drückender Stiefel vereiterten Füße zu zeigen. Der Arzt war ein Glücksfall für mich, denn er erkannte, dass der Grund für meinen Erschöpfungszustand und meine Atemnot eine Lungenentzündung war, die ich mir in eiskalten, schlaflosen Nächten zugezogen hatte. Er sorgte dafür, dass ich nach Orvieto und von dort mit einem Lazarettzug nach Cortina d’Ampezzo transportiert wurde, wo mich drei Monate in friedlicher Umgebung erwarteten und ich von einem kompetenten Arzt (Prof. Dr. Lapp aus Wien) und fürsorglichen, heiter gestimmten Schwestern betreut wurde.

 

Kurz vor Kriegsende wäre ich dann doch noch beinahe für den aussichtslosen Endsieg »verheizt« worden, wie man das im militärischen Slang nannte. Die Rote Armee der Sowjetunion rückte inzwischen in Schlesien und Sachsen vor. Ich erinnere mich an eine Nacht in Bautzen, wo ich mit zwei Kameraden in einem verlassenen Wohnhaus an einem offenen Fenster saß, hinter dem wir ein schweres Maschinengewehr aufgebaut hatten. Wir sahen gegenüber eine brennende Schule, aus der russische Soldaten vergeblich zu flüchten versuchten. Eine entsetzliche Erinnerung. Wir verließen Bautzen mit dem Gefühl, eine deutsche Stadt zurückerobert zu haben. Auch an die Rückeroberung eines Dorfes erinnere ich mich. Es war bereits von den Soldaten der Roten Armee geräumt, als wir einrückten, ohne dass es unsererseits irgendwelcher Heldentaten bedurfte. Aber dann sahen wir einen russischen Soldaten, der offenbar den Abzug seiner Kameraden verschlafen hatte und nun mit über dem Kopf gefalteten Händen im Vorgarten eines Bauernhauses kniete und von deutschen Soldaten umgeben war, von denen einer Russisch konnte und sich mit dem Mann unterhielt. Der Russe erzählte von seiner Frau und seinen Kindern. Vielleicht hoffte er auf eine menschliche Regung seiner deutschen Kameraden. Auch ich hoffte darauf. Aber dann übersetzte der deutsche Soldat einen Satz, der alle Hoffnung zunichtemachte: »Ich weiß, dass ihr mich erschießen werdet.« Da habe ich mich hastig entfernt, um das nicht mitzuerleben.

 

Und dann kam mein letzter Kampftag, der 27. April 1945. Wir lagen in einem Waldstück bei dem Dorf Luppedubrau. In einer meiner Schubladen befindet sich ein Schreibmaschinendurchschlag auf hauchdünnem Papier mit einem allen Soldaten des Bataillons bekanntgegebenen »Tagesbefehl« des Kommandierenden Generals unseres Panzerkorps vom 20. April 1945, dem letzten Geburtstag des »Führers«. Da heißt es: »Morgen tretet Ihr erneut zum Angriff gegen den Bolschewisten an, der, wenn auch unter sehr hohen Verlusten, wieder in unsere deutsche Heimat einbrechen konnte.«

 

»Wieder einbrechen«? Wer war am 22. Juni 1941 in welches Land eingebrochen?

 

»Von jedem Einzelnen von Euch hängt es ab, ob die vormarschierenden Feindhorden zum Stehen gebracht werden. In Eurer Hand liegt das Schicksal von Millionen deutscher Frauen und Kinder.«

 

Und so endete der Tagesbefehl des Generals: »Es lebe unser deutsches Volk!

 

Es lebe unser Führer Adolf Hitler!«

 

Adolf Hitler schoss sich drei Tage später eine Kugel in den Kopf. Und eine Woche darauf, am 8. Mai 1945, kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Aber wir 19-jährigen Jungen sollten noch in letzter Stunde unser Leben riskieren und den deutschen Endsieg erringen. Und das sah bei Luppedubrau so aus:

 

Wir sollten, wie wir das bei Kriegsspielen in der Hitlerjugend gelernt hatten, über eine Wiese stürmen und die jenseits am Waldrand stehenden russischen Panzer in Richtung Moskau zurückdrängen. Wir hatten nur Gewehre in der Hand, mit denen wir gegen Panzer nichts ausrichten konnten. Aber es gab ein russisches Geschütz, das irgendwo stehengeblieben war. Ein Kamerad kannte sich mit der Bedienung aus und gab einen Schuss ab. Er erzielte einen Zufallstreffer, ein Panzer ging in Flammen auf. Wir jubelten. Erst später begriff ich, dass wir auch über den Tod von Menschen gejubelt hatten.

 

Aber dann wurden wir beschossen, und eine Granate explodierte in meiner Nähe. Ein neben mir laufender Kamerad, der mit mir befreundete Obergefreite Paul Hartmann, stürzte. Ein Granatsplitter war in seinen Kopf eingedrungen, er war sofort tot. Mich traf ein Splitter derselben Granate in die linke Schulter und blieb dicht neben der Wirbelsäule im Fleisch stecken, wo er noch heute im Röntgenbild erscheint. Ein Granatsplitter, der mir vielleicht das Leben rettete, weil ich aus der Kampflinie zurückgezogen und abtransportiert werden musste.

 

Auf der Fahrt zum Truppenverbandsplatz wurde das Sanitätsfahrzeug mit Granaten beschossen. Der Fahrer stellte den Wagen an der Wand eines Bauernhauses ab. Er und sein Beifahrer flüchteten in den Keller des Hauses. Ich blieb bewegungsunfähig auf der Bahre im Wagen liegen. Eine Granate traf das Bauernhaus, Mauerschotter prasselte auf das Dach des Fahrzeugs. Auch durchschlugen Granatsplitter das Blech des Wagens. Ich hatte Todesangst, erlitt aber keine weiteren Verletzungen.

 

Ich erreichte schließlich den Truppenverbandsplatz, wo ich von einem Medizinstudenten namens Paschke versorgt wurde, den ich aus Anklam kannte. Auf der Lilienthal-Oberschule war er einige Klassen über mir gewesen, und in der Hitlerjugend hatte er den Fanfarenzug als Tambourmajor geleitet. Er zog einige Kleiderfetzen aus meiner Wunde und gab mir ein Glas Apfelsaft zu trinken, eine seltene Köstlichkeit. Dann kam ich in eine kaum beleuchtete Höhle, in der hunderte Verwundete auf Stroh gelagert waren und stöhnten. Ich erkannte die Stimme eines Oberleutnants, der offenbar schwer verwundet war und laut jammerte. Ich hatte keine angenehmen Erinnerungen an ihn. Er hatte mich einmal ein Telefongespräch mithören lassen, in dem er meine soldatischen Fähigkeiten bemängelte und erzählte, dass ich nur zum Wachestehen zu brauchen sei. Aber als er jetzt nach seiner Mutter rief, tat er mir doch leid.

 

Paschke sorgte dafür, dass ich aus der fürchterlichen Höhle geholt und in eine endlose, mit Fahrzeugen versehene Kolonne von Zivilisten und Soldaten aufgenommen wurde, die durch die nördliche Tschechoslowakei nach Westen strebte. Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, endete meine Flucht aus dem Krieg in Karlsbad, wo bei einem amerikanischen Posten Waffen und Soldbücher abgegeben wurden. Dann kam ich in ein riesiges Gefangenenlager auf dem Flugplatz bei Eger, aus dem ich nach zwei Wochen in die Freiheit entlassen wurde.