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Sozialabbau 2012, Folge 8  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

3. Juli: Die Zahl der Zwangsumzüge von »Hartz IV«-Beziehern in Berlin wird mit statistischen Tricks kleingerechnet. Das ergab die Antwort des Berliner Senats auf eine Kleine Anfrage der Piraten-Fraktion, berichtet das Internetportal gegen-hartz.de. Nach offizieller Lesart seien im Jahr 2011 insgesamt 1.313 Haushalte zum Umzug durch das Jobcenter aufgefordert worden. Die Kleine Anfrage habe ergeben, daß der »Senat diejenigen Umzüge von ›Hartz IV‹-Haushalten nicht dazuzählt, die stattfinden, nachdem das Jobcenter ihnen nur noch den möglichen Höchstbetrag der Wohnkosten erstattet.« Den offiziellen Zahlen müsse eine bislang unbekannte Zahl an erzwungenen Umzügen hinzugerechnet werden. »Niemand kann bislang sagen, wie viele der 22.348 von Mietfestsetzungen betroffenen Haushalte in der Folge umgezogen sind«, so die Piraten-Fraktion.

11. Juli: Die Änderungen beim Elterngeld für »Hartz IV«-Empfänger haben für diese nach Ansicht von Sozialexperten drastische Folgen, berichtet dpa. Seit eineinhalb Jahren wird die Leistung mit dem »Hartz IV«-Satz verrechnet. Die Anrechnung für Familien, die von Arbeitslosengeld II leben müssen, habe »die Versorgungssituation vor allem nach der Geburt deutlich belastet«, zitiert die Agentur die Beraterin Anne Ruhe vom Diözesancaritasverband Münster. Eine Umfrage der Schwangerschaftsberatungsstellen im Bistum Münster habe ergeben, daß viele der Betroffenen Tafeln und Kleiderkammern nutzten – »und das sicherlich nicht freiwillig, sondern weil das Geld einfach nicht reicht«.

17. Juli: Die zulässigen Mietkosten für »Hartz IV«-Empfänger in Frankfurt/Main werden laut Frankfurter Rundschau seit etwas mehr als einem Jahr von der Stadt falsch berechnet. Über Ungereimtheiten werde von Betroffenen schon seit einiger Zeit geklagt, jetzt sei die Ursache bekannt: »Die Stadt ermittelt die Mietobergrenze nach dem alten Mietspiegel 2008«, berichtet die Zeitung.

3. August: In Berlin ist die Zahl der »Aufstocker« – also jener Menschen, die zu wenig verdienen, um davon leben zu können und deshalb »Hartz IV«-Leistungen beantragen müssen – um fast 50 Prozent gestiegen, berichtete der Rundfunk Berlin-Brandenburg auf seiner Website. Im Januar 2007 seien es rund 87.000, im Dezember 2011 bereits etwa 128.300 gewesen.

4. August: Die sogenannte gute Arbeitsmarktlage geht an Langzeitarbeitslosen vorbei. Laut Welt online ist der Anteil der Erwerbslosen, die bereits zwei Jahre und länger auf »Hartz IV« angewiesen sind, seit 2009 bundesweit um fünf Prozent auf 61 Prozent gestiegen. In Ostdeutschland sind es knapp 65 Prozent, in Westdeutschland 59 Prozent.

8. August: Für die Berechnung des Heizkostenzuschusses für »Hartz IV-Bezieher« gilt der allgemeine Heizspiegel. Dies geht aus einem Urteil das Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 2012 (Az.: L 19 AS 2007/11) hervor, heißt es auf der Website hartz-iv.info. Geklagt hatte eine »Hartz IV«-Empfängerin aus Gelsenkirchen, die 127 Euro Heizkostenvorauszahlung vom Jobcenter wollte. Ihre Begründung, durch mangelhafte Dämmung verursache die Wohnung erhebliche Heizkosten, wurde vom Jobcenter abgelehnt. Die Mehrkosten müsse die Frau aus der eigenen Tasche zahlen, urteilte jetzt auch der Richter. Die Revision beim Bundessozialgericht in Kassel wurde unter Az.: B 14 AS 60/12 R zugelassen.

10. August: In Rüsselsheim organisiert die Caritas seit einigen Jahren die »Schultafel«-Aktion, schreibt die Main-Spitze online. Sie verteile gefüllte Schulranzen an Schulanfänger aus »Hartz IV«-Familien. 2010 waren es rund 60 Ranzen, ein Jahr später schon doppelt so viele. Dieses Jahr bekamen 125 Erstklässler einen Schulranzen. Die »Argen« müßten den bedürftigen Familien auch Geld für Schulmittel zur Verfügung stellen, so Christine Müller von der Caritas: »100 Euro gibt es pro Kind aus dem Bildungs- und Teilhabepaket fürs ganze Jahr, 70 am Schuljahresbeginn, 30 fürs zweite Schulhalbjahr.« Eltern würden von der »Arge« nicht auf die ihnen zustehenden öffentlichen Hilfen hingewiesen. Bis zum 1. August mußte der Antrag gestellt sein, sonst würden die 70 Euro fürs erste Halbjahr verweigert, so Müller.

– In Deutschland ist der 63. Geburtstag für Langzeitarbeitslose kein Feiertag, schreibt die Süddeutsche online. Denn nach dem Sozialgesetzbuch II seien »Hartz IV«-Empfänger seit 2008 verpflichtet, andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, wenn dadurch der Bezug von Arbeitslosengeld II beseitigt, verkürzt oder vermindert werde. Im Klartext: Langzeitarbeitslose können mit 63 Jahren »zwangsverrentet« werden. Ein Geschenk sei das nicht, im Gegenteil: Jeder Monat früheren Renteneintritts mindere die Rente um 0,3 Prozent. Wer bis zum Alter von 65 hätte arbeiten müssen, verliere 7,2 Prozent. Mit der auf 67 Jahre steigenden Regelaltersgrenze erhöhe sich der Abzug auf 14,4 Prozent.

14. August: »Hartz-IV« habe zu einer »Amerikanisierung« und tiefen Spaltung der Gesellschaft geführt, meinte der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Pressemitteilung anläßlich seiner Bilanz zu zehn Jahren »Hartz-Reformen«. »›Hartz IV‹ markiert den absoluten Tiefpunkt der bundesdeutschen Sozialpolitik«, bilanziert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Verbandes. »Hartz IV« sei von einem zutiefst negativem Menschenbild getragen und geprägt von Mißtrauen, Kontrolle und Drangsalierung. In der Praxis sei der Anspruch des »Förderns und Forderns« nie erfüllt worden, so Schneider.

15. August: In keinem Bundesland sind so viele Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen wie in Berlin: Wie die Frankfurter Rundschau online berichtet waren in der Hauptstadt im Juli 422.959 »Hartz IV«-Empfänger in 321.253 »Bedarfsgemeinschaften« gemeldet. Zusätzlich bezogen mehr als 150.000 Berliner, die als nicht erwerbsfähig gelten, Sozialgeld. Mit 14,4 Prozent habe Berlin auch die bundesweit höchste Jugendarbeitslosigkeitsquote, fast jeder zehnte Schüler verlasse die Schule ohne Abschluß, so die Zeitung.

16. August: »›Hartz IV‹ hat uns Niedriglöhne gebracht«, zitiert das Magazin Focus Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), in einem Interview. »Der Druck auf Arbeitslose hat deutlich zugenommen. Die Bezüge sind alles andere als üppig. Das Leben unter ›Hartz IV‹ ist ein Leben am Rande der Gesellschaft. Ökonomisch betrachtet ist ›Hartz IV‹ eine der wichtigsten Ursachen für die Umverteilung von unten nach oben, die wir in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben«, so Horn.

– Ein Euro Stundenlohn bleibt dem Kabarettisten, Musiker und Schauspieler Étienne Gillig für seine Bühnenshow nach Abzug der Reisekosten und anderer Aufwendungen, schreibt Welt online. Um über die Runden zu kommen, habe er jetzt »Hartz IV« beantragt. Gillig, der eine Cellisten-Ausbildung am Konservatorium vorzuweisen hat, spielt seit einigen Jahren im »Hartz IV-Orchester«. Gegründet von einem ehemaligen Sozialhilfeempfänger spielen in dem Orchester heute 135 Künstler, die von »Hartz IV« leben müssen. Zynischerweise wird das Orchester im November als Teil der Initiative »Deutschland – Land der Ideen« vom Bundespräsidenten ausgezeichnet werden.

17. August: Wer arm ist, stirbt früher, zitiert die Westdeutsche Zeitung online Norbert Kallen vom Caritas-Verband des Rhein-Kreises Neuss. »Hartz IV«-Bezieher können sich einen Arztbesuch wegen Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlung in vielen Fällen gar nicht leisten. Der Arzt Dr. Dirk Stenmanns bietet deshalb seit 2007 in Neuss mit Hilfe der Caritas eine Sprechstunde für Wohnungslose an. Zu Beginn hieß es, daß es in der Stadt keinen Bedarf dafür gebe. Doch der Arzt betreute in den fünf Jahren 83 bedürftige Patienten. 50 davon kommen regelmäßig in seine Sprechstunde.

20. August: »Insgesamt habe ich fürs Leben zu wenig und zum Sterben zu viel,« sagt Andreas M. aus Witten. Der Westen online stellte den 48jährigen Sozialhilfeempfänger aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der »Hartz-Gesetze« vor. Andreas M. ist sogenannter »Aufstocker«. 1,50 Euro verdient er pro Stunde zusätzlich als Landschaftsgärtner auf einem Friedhof. Bis zu 185 Euro dürfen es extra sein neben dem monatlichen Satz von 374 Euro. Wegen der schweren körperlichen Arbeit brauche er drei volle Mahlzeiten am Tag. Da er das Geld dafür aber nicht zur Verfügung habe, müsse er immer öfter die »Tafeln« in Anspruch nehmen, berichtet Der Westen.

21. August: »Am 15. August 2012 passierte ein Gesetzesentwurf das Bundeskabinett, der einige Änderungen an der Prozeßkostenhilfe enthält«, vermeldete die Piratenpartei Landesverband Bayern. Unter dem Vorwand der Mißbrauchsbekämpfung würden unter anderem Freibeträge für Geringverdiener in der Prozeßkostenhilfe gesenkt und die zumutbaren Ratenzahlungszeiträume verlängert. Bei geringem Streitwert werde künftig keine Prozeßkostenhilfe mehr gewährt. »Statt Geringverdienern die Möglichkeit zu nehmen, gegen Willkür vor Gericht zu ziehen, sollte man sich fragen, ob hier nicht nur an den Symptomen des eigenen Versagens zu Lasten Betroffener herumgedoktert wird«, so die Piraten.

22. August: Im Landkreis Gotha ist 2011 jeder dritte sozialversicherte Angestellte nach der Kündigung sofort in »Hartz IV« abgestürzt. Im Bundesdurchschnitt ist jeder vierte Neu-Arbeitslose betroffen. Dies meldete die Online-Zeitung Deutschland today. Wer arbeitslos wird und in den vergangenen zwei Jahren nicht mindestens zwölf Monate in einem sozialversicherten Beschäftigungsverhältnis stand, rutscht direkt in »Hartz IV«. Besonders problematisch sei die Situation in einigen Branchen, zitiert die Zeitung den Deutschen Gewerkschaftsbund. So seien es in der Leiharbeit sogar 53 Prozent, die nach Job-Verlust unmittelbar auf staatliche Fürsorge angewiesen sind.

23. August: Deutschland hat wieder ein Proletariat: Arbeiterinnen und Arbeiter mit geringer Entlohnung und wenig bis keiner sozialen Absicherung. Dies geht laut Spiegel online aus einer Untersuchung des Hamburger Instituts für Sozialforschung unter Leitung des Soziologen Heinz Bude hervor. Die Wissenschaftler haben für die Studie, die dieses Jahr veröffentlicht werden soll, drei Jahre den deutschen Dienstleistungsbereich unter die Lupe genommen. Die Zahl der neuen »Dienstleistungsproletarier« in Deutschland schätzen die Soziologen auf etwa zwölf Prozent der Arbeitnehmerschaft, schreibt der Spiegel.

28. August: Rund 800.000 Rentnerinnen und Rentner in Deutschland arbeiten in einem Minijob, etwa 120.000 von ihnen sind älter als 75. Ende letzten Jahres hatten 154.000 über 65Jährige eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfragen der Linken-Bundestagsfraktion hervor, wie die Süddeutsche online berichtete. Warum viele Rentner (noch) arbeiten wird je nach Standpunkt unterschiedlich bewertet.

5. September: Nicht einmal ein Viertel (5.900) aller 23.000 ehemaligen Schlecker-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter haben acht Monate nach der Insolvenz des Unternehmens einen neuen Job gefunden, schreibt das Hamburger Abendblatt. Währenddessen soll der Firmenpatriarch Anton Schlecker dem Insolvenzverwalter ein Millionenangebot gemacht haben, um seine Villa in Ehingen zurückzukaufen, meldete die Süddeutsche online am 30. August.