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Titel1915

Auf der Suche nach der verlorenen Bürgerbewegung  (Daniela Dahn)

Als die Mauer gefallen war, sahen sich die Eliten des Westens als Sieger der Geschichte. Was machten sie daraus? Die Bilanz zeigt, dass sich der individuelle Spielraum der meisten Ostdeutschen deutlich verbessert hat, auch wenn die ökonomische Kluft zwischen Ost und West durch den Ausverkauf der Treuhand und das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung für unabsehbare Zeit verstetigt wurde.


Aber die Art der Vereinigung hat den auf die ganze Gesellschaft ausgeübten Demokratisierungsdruck der Bürgerbewegung ins Leere laufen lassen. Ein Druck, der von vielen Intellektuellen aus dem Westen bestärkt wurde. Ende 1989 warnte der österreichische Futurologe Robert Jungk die ostdeutschen Aktivisten: »Lassen Sie sich um Gottes Willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus. Geben Sie nur ja nicht die Chance zu einer eigenständigen, besseren, humanen Ordnung aus der Hand.« Die absehbaren Krisen haben wir heute mit aller Wucht – die Chance, sie abzuwenden, wurde gründlich vermasselt. Die schon damals desinformierten Mehrheiten ließen und lassen sich verführen.


Im Frühjahr 1990 sagte Bärbel Bohley: »Wenn man sich treu ist in seinen Ansichten, gehört man jetzt nicht mehr zu denen, die gehört werden. Ich bin augenblicklich nicht so populär in meiner Auffassung … Die Wendehälse wollen beweisen, wie sie sich gewendet haben. Gleichzeitig kommen die, die schon die Lösung in der Tasche haben, und die Lösung sieht aus, wie der Westen aussieht. Die andere Seite ist schon da. Da sind wieder nur Mauern. Es wird nicht ins Offene gedacht … Die Chance, neue Ideen reinzubringen, ist einfach nicht da.«


Eine der neuen Ideen von »Demokratie Jetzt« war, die Form der Wiedervereinigung nicht der von Lobbyisten beratenen Volkskammer zu überlassen, sondern durch einen wohl informierten Volksentscheid zu legitimieren. Neue Gesetze und der Verfassungsentwurf des Runden Tisches sollten direkte Demokratie ermöglichen. »Die Bürgerbewegungen sind eine Anfechtung für die Parlamente, weil die Demokratie im Westen nur eine andere Spielart unserer früheren Unmündigkeit ist«, so Bohley damals.


Die Anfechtung blieb aus, die Bürgerbewegten wurden als Illusionisten belächelt. Von ihren Ideen sind meist nur der Runde Tisch und die Montagsdemo in Erinnerung geblieben. Die Zivilgesellschaft versucht bis heute, die damalige moralische Akzeptanz dieser Mittel zu nutzen. Fast alle Bürgerbewegungen mit lokaler Thematik nennen sich heute Runder Tisch. Ob Stuttgart 21 oder in Berlin der Energietisch oder der Verkehrstisch. An den Runden Tischen der Stadtteilkonferenzen geht es schon auch mal um Graffiti-Entfernung oder die Installation von Hundetoiletten. Wogegen nichts zu sagen ist, aber muss man dafür das höchste Gremium der Konsensfindung bemühen? Es gibt einen Runden Tisch der KfW-Bankengruppe und einen zur Finanzierung von Projekten. Früher oder später wird eben jedes revolutionäre Instrument aufgekauft.


Die verbliebenen Montagsdemos finden kaum öffentliche Beachtung. Dabei sind viele Forderungen von einst unerfüllt:
Wir wollen nicht andere Herren, wir wollen keine.
Die Macht geht vom Volke aus. Aber wo geht sie hin?
So wie wir heute demonstrieren, werden wir morgen leben.
Das sagen sich auch die Stuttgarter, die nach wie vor jeden Montag demonstrieren. Selbst wenn es vorerst so aussieht, als hätten die Aktivisten verloren, ist dort eine hochpolitisierte Bürgerschaft zurück geblieben. Initiativen aller Art haben verstanden: Man kann die Probleme eines lokalen Großprojektes nicht lösen, ohne grundsätzliche Fragen zu stellen: Wer hat wie viel zu sagen? Wem gehört was? Wer bekommt welche Informationen? Wessen Interessen vertreten die Medien? Wie organisiert man einen Volksentscheid, der nicht auf Desinformation und Neid-Debatten beruht und daher zu einer Entscheidung führt, deren Legitimität anerkannt werden kann?


Längst nicht alle Demonstranten haben so viel Zulauf wie Pegida und seine Ableger. In ihrer Leipziger Erklärung von 2014 forderten die sich als wahre Erben der Wendedemo verstehenden Montagsdemonstranten, von den Medien nicht mehr beachtetet, Bemerkenswertes: Sie sehen sich als aufgeklärte Bürger, für die es nicht mehr akzeptabel ist, dass die Politik in erster Linie der Wirtschaft und anderen Lobbygruppen dient. Weshalb sie Kriege ablehnen, die immer wieder unter dem Deckmantel von Menschenrechten geführt werden, jedoch machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen dienen. Sie wollen Konflikte gewaltfrei lösen und unsere Flughäfen nicht als Umschlagplätze für Soldaten und Waffen missbrauchen lassen. Sie haben es satt, von Medien überwiegend einseitige Sichtweisen präsentiert zu bekommen. Öffentliche Medien dürften keinen Einschaltquoten unterworfen sein. Sie lehnen die immer weiter um sich greifende Überwachung und Speicherung von Daten zur angeblichen Terrorbekämpfung ab. Sie fordern in Deutschland und Europa eine Demokratie, die direkte Entscheidungen des Bürgers zulässt.


Aber die Straße ist eine geduldige Gegend geworden. Deshalb gilt es an das wichtigste, da konsequenteste bürgerrechtliche Instrument von 1989 zu erinnern, das von Anfang an, und ausnahmslos, mit Missachtung gestraft wurde. In ihrem hierzulande wenig beachteten, ja jahrelang vergriffenen Buch »Über die Revolution« hat Hannah Arendt schon 1963 die Bürger beschworen, »das eigentlich Revolutionäre« in der Eroberung der Gesetz- und Verfassungsgebung zu entdecken.


Genau das ist 1989 geschehen, im Windschatten der allgemeinen Aufmerksamkeit und in der totalen Mondfinsternis westlicher Akzeptanz. Allein ich habe damals am Entwurf zweier neuer Gesetze mitgearbeitet. Eine Gruppe des Schriftstellerverbandes formulierte ein neues Pressegesetz. Frei von Zensur, aber auch mit einer innerredaktionellen Demokratie, wie sie in den westlichen Redaktionsstuben bis heute nie erreicht wurde. Also auch frei von Selbstzensur.


Im Auftrag der ersten unabhängigen Untersuchungskommission arbeiteten wir an einem neuen Polizeigesetz, mit Berufung von Bürgerbeauftragten, die es bis heute nicht gibt. Auch eine Kommission mit solchen Kompetenzen, ist heute undenkbar. Ihr Fazit, wonach es ein tragischer Irrtum ist, politische Probleme mit polizeilichen Mitteln lösen zu wollen, ist aktuell geblieben.


Während des brutalen Vorgehens gegen die Occupy-Bewegung hat ein Mädchen im New Yorker Zuccotti Park ein Goethe-Zitat hochgehalten: »Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.« Der Domestic Security Alliance Council, ein seit 2005 bestehender Ausschuss aus Vertretern des FBI und der 200 größten Banken und Konzerne der USA, hat in Zusammenarbeit mit der Polizei die Bewegung bespitzelt, vielerorts zusammengeschlagen und kriminalisiert, Leute verhaftet. Menschen, die friedlich die Systemfrage stellen, müssen davon ausgehen, von De-facto-Geheimdiensten der Wirtschaft als »terroristisches Ziel« bekämpft zu werden. Dass die Rekommunalisierung und eines Tages die Sozialisierung öffentlicher Güter als strafbare Zerstörung gegenwärtiger Strukturen angesehen wird, ist angesichts feudaler, außergerichtlicher Schiedsgerichte, wie sie bei dem sogenannten Freihandelsabkommen TTIP vorgesehen sind, nur zu wahrscheinlich.
Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, der am Grundgesetz orientiert und mit Elementen der Basisdemokratie und der sozialen Menschenrechte modernisiert ist, hätte dem entgegenwirken können. Doch er wurde weder von den mehrheitlich in der neuen Volkskammer vertretenen Wendehälsen, noch von den siegesberauschten Westpolitikern beachtet. Mit dem überstürzten Beitritt nach Artikel 23 war dann der Demokratisierungsdruck aus dem Osten entsorgt. Die Restauration konnte beginnen.


In Berlin hat der rot-rote Senat 2006 immerhin durch eine Verfassungsänderung die Volksgesetzgebung als Instrument der direkten Demokratie gestärkt und sie der Parlamentsgesetzgebung gleichgestellt. Nicht faul, rief der Berliner Wassertisch gegen die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe ein Volksbegehren ins Leben. 666.000 Unterschriften verlangten: »Schluss mit Geheimverträgen – wir Berliner wollen unser Wasser zurück.« Schließlich musste das in der Geschichte der Bundesrepublik erste vom Volk formulierte Gesetz im Februar 2011 verabschiedet werden. »Das Volk von Berlin hat beschlossen«, stand darüber.


Drei Jahre später zog der Wassertisch ernüchtert Bilanz: Zwar hat der Senat unter dem öffentlichen Druck privatisierte Anteile verlustreich, über Kredite, zurückgekauft. Die Wasserpreise wurden für die nächsten vier Jahre um acht Prozent gesenkt. Aber die Profis von der Großen Koalition im Abgeordnetenhaus wussten, dass es nicht nur auf das Gesetz ankommt. Mindestens so wichtig ist die Durchführungsbestimmung. Dem Volksgesetz war keine Volksverordnung gefolgt. Dort hätte beantwortet werden müssen: Wer entscheidet, wie wird es gemacht, wer informiert, wer kontrolliert?


Diese Kompetenzen haben die Regierenden wieder an sich gerissen, und auch die Opposition hat sie dabei gewähren lassen und die Bürgerinitiative nach Meinung der Initiatoren nicht hinreichend unterstützt. Wieso dürfen gewählte Volksvertreter eigentlich mit öffentlichem Eigentum umgehen, als gehöre es ihnen?


Das ist eine zentrale Frage. Die nur der Gesetzgeber beantworten kann. Aber wer gibt die Gesetze? In der EU ist keine von den Bürgern bewilligte Verfassung zustande gekommen. Zurzeit konstituieren sich verschiedenen Ortes selbstmandatierte Bürger, um auf nationaler und europäischer Ebene so etwas wie Verfassungskonvente von unten aufzubauen. Mit Vorschlägen, für alle im Netz einsehbar und diskutierbar. Um bei der nächsten Revolte ein Konzept bereit zu haben. Das wäre ein konsequentes Nachwirken der Erfahrungen von 1989.


Denn die Friedliche Revolution von 1989 erfreut sich bei den Eliten nur deshalb so großer Beliebtheit, weil sie nichts revolutioniert hat.