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Die Systemfrage  (Friedrich Wolff)

Der Titel ist – man soll es kaum für möglich halten – der FAZ vom 2. Januar 2008 entnommen. Der Artikel darunter stammt von Stefan Dietrich und wurde auf Seite 1 der ersten. Ausgabe des Jahres plaziert, sozusagen richtungweisend für das junge Jahr. Er beginnt mit einer Beschreibung der gegenwärtigen Lage. Dazu wird der Bundespräsident mit einem Satz aus seinem Artikel in derselben Zeitung vom 29. Dezember 2007 zitiert: »Vergleichsweise wenige erfreuen sich enormer Einkommenszuwächse, während die Einkommen der breiten Mittelschicht in Deutschland stagnieren oder real teilweise sinken.« Danach stellt Dietrich selbst weiter fest, daß ein »Drittel der Bürger ... auf Dauer zu Nicht- oder Protestwählern geworden ist«. Schließlich kommt der Autor zu der aus FAZ-Sicht überraschenden (in Ossietzky 1/08kurz zitierten) Erkenntnis: »Manchem wird erst jetzt bewußt, wie sehr die Konkurrenz des Kommunismus, solange sie bestand, auch den Kapitalismus gebändigt hat. Aus sich heraus sind Demokratie und Marktwirtschaft ebenso wenig gegen Selbstzerstörung gefeit wie totalitäre Systeme.« Das schlägt ein: Der Sieg über den zum »Kommunismus« hochstilisierten DDR-Sozialismus wird zur tödlichen Gefahr für den Kapitalismus! Dann war also der Sieg ein Pyrrhussieg. Da tun sich Abgründe auf: Sozialismus ante portas! Danach im letzten Satz der Ratschlag: »Bevor andere die Systemfrage stellen, sollten es die Eliten tun.«

Wenn in der führenden Zeitung des Landes die »Systemfrage« aufgeworfen wird, steht es offenbar schlecht um die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik. Bisher sagte nur der Mann auf der Straße: »So kann es nicht weitergehen.« In den Medien dagegen las und hörte man, alles sei bestens. Zuletzt hörte man es von unserer Bundeskanzlerin. Jetzt jedoch diagnostiziert die FAZ das Gegenteil. Der auf »Selbstzerstörung« gerichtete Kurs unseres Gemeinwesens manifestiert sich nicht nur in der Einkommensverteilung und der geringen Wahlbeteiligung. Es knirscht überall: Das Bildungswesen ist im ehemaligen Land der Dichter und Denker auf einem Tiefstand; die Justiz des Rechtsstaats hinkt weit hinter ihren Aufgaben her und offenbarte nicht nur in der Abrechnung mit der DDR ihren Klassenstandpunkt; das Gesundheitswesen verkommt; der Staat ist überschuldet. Mehr als dreieinhalb Millionen amtlich anerkannte Arbeitslose gelten als so wenige, daß die Regierung sich selber zu diesem politischen Erfolg beglückwünscht. In so wesentlichen politischen Fragen wie den Militäreinsätzen der Bundeswehr oder der EU-Verfassung billigt eine Mehrheit der Bürger nicht die Entscheidungen des Parlaments. Unwidersprochen stellte der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau schon 2006 fest: Die Demokratie steht in der Bundesrepublik auf tönernen Füßen.

Das Wetterleuchten ist unübersehbar. Was wird werden, wenn eine Rezession kommt? Doch für die Mehrzahl der Politiker und der Medien ist das kein Thema. Diejenigen, die sich Sozialisten nennen, schweigen wie alle anderen. Sie stellen die Systemfrage nicht. Vielleicht haben sie Angst vor dem Verdikt, nicht koalitionsfähig zu sein. Sie denken wie die anderen Politiker nur an die nächsten Wahlen. Wer kann wo Minister werden? Da das System nicht in Frage gestellt wird, bleibt ungeklärt, was die Alternative ist.

Auch Dietrich gibt keine Antwort auf die Systemfrage. Die Eliten sollen sie beantworten. Doch wer sind die Eliten? Sich selbst rechnet Dietrich anscheinend nicht dazu, Politiker wie Lafontaine und Gysi sind wohl auch nicht angesprochen. Merkel, Schäuble, Koch und andere könnten schon gemeint sein, Piëch und ähnliche Topmanager wohl auch. Was werden sie antworten? 1933 wurde dem Volk noch die kapitalistische Variante Faschismus geboten. Soll das die Antwort auf Dietrichs Frage sein?

1996 gab der jetzige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in der FAZ die Parole aus: »Weniger Demokratie wagen«. Gleichfalls in der FAZ schrieb Konrad Adam am 1997 prophetisch: »Wer die Linien, die sich hier andeuten, weiter auszieht, landet bei einem Bündnis zwischen den Managern und den Bürokraten, einem Bündnis, das so stark sein wird, daß kein Bürger dagegen ankommt. Mit den Römischen Verträgen ist dieser Bund verabredet worden, in Maastricht wurde er unterzeichnet, in Brüssel wird er praktiziert. Wenn das Bündnis erst steht, wird es mit der Demokratie in jenem emphatischen Sinne, der das Wort ausgezeichnet hat, nicht mehr viel auf sich haben. Auch dann wird noch gewählt, mit großem Aufwand und auf allen Ebenen, doch werden die Mandate nur noch zum Schein erteilt, denn die Herrschenden wissen, wie sie die Beherrschten unter Kontrolle halten. Es wird eine neue Gesellschaft entstehen, in der die alte Klage über die Ungleichheit der Menschen zwar nie verstummt, in der sie aber nichts mehr ausrichten kann, weil keiner da ist, der sie annimmt und verhandelt.« Vielleicht sieht er so aus, der Faschismus des 21. Jahrhunderts.

Den enttäuschten Bürgern wird keine Alternative gezeigt, nicht von der Mitte und nicht von den Linken, wenn man von den einsam rufenden Kommunisten der DKP absieht, von denen die Öffentlichkeit keine Kenntnis nimmt. Die Rechten stehen – noch als eine nicht beachtenswerte Minderheit – bereit. Kein Hoffnungsstrahl am Horizont? Vielleicht doch, wenn wir weit über unsere Grenzen sehen. Vielleicht, vielleicht wachsen den Linken auch bei uns neue Kräfte zu. 45 Prozent der Westdeutschen und 57 Prozent der Ostdeutschen halten den Sozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt worden ist. Das Potential ist also da, man muß es nur nutzen.