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Roter Schnee  (Brigitte Jaschke)

Auf der Südseite des Berliner Olof-Palme-Platzes, größtenteils auf der Kurve der Budapester Straße bis hin zur Volksbank stand früher das Hotel Eden, das Luxus-Hotel im Westen, Adresse Kurfürstendamm; der verlief damals in gerader Linie von der Gedächtniskirche in die jetzige Budapester Straße. Das im zweiten Weltkrieg zum Teil zerstörte Gebäude wurde zwischen 1951 und 1958 abgerissen. Im Januar 1919, zur Zeit des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, war das Hotel teilweise beschlagnahmt; die Gardekavallerieschützendivision, die in das revolutionäre Berlin wieder die rechte Ordnung brachte, hatte hier ihr Hauptquartier. Hier fanden am späten Abend des 15. Januar die Verhöhnungen und die Verhöre statt und am Tag danach das Gelage der Wachmannschaft. In diesen Wochen wurden in Berlin weit über hundert Aufständische erschossen.

Im Dezember 1918, einen Monat nach dem Ende des ersten Weltkriegs, hatte Rosa Luxemburg in der Roten Fahne unter der Überschrift »Was der Spartakusbund will« Anklage erhoben: »Die Kapitalisten aller Länder – das sind die wahren Anstifter zum Völkermord. Das internationale Kapital – das ist der unersättliche Baal, dem Millionen auf Millionen dampfender Menschenopfer in den blutigen Rachen geworfen werden.« Sie wollte, daß es einmal heißen könnte: Dieser Krieg ist der letzte gewesen. Im Sozialismus sah sie den Rettungsanker der Menschheit. Die arbeitenden Massen sollten nicht mehr von oben dirigiert und ausgeplündert werden, sondern sie sollten leben, das ganze politische und wirtschaftliche Leben. In der Neujahrsnacht gründeten Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und andere Spartakisten die Kommunistische Partei Deutschlands.

Rosa Luxemburg sagte voraus, die herrschende Klasse werde ihr »Allerheiligstes, ihren Profit und ihr Vorrecht der Ausbeutung mit Zähnen und mit Nägeln« verteidigen. So geschah es.

Nach dem Mord an Luxemburg und Liebknecht waren sozialistische Revolution, Klassenkampf, die Forderung nach sechs Stunden als Höchstarbeitstag und nach der Enteignung von Banken und Großbetrieben Schnee von gestern. Das Nazi-Regime wurde mit aller Macht vorbereitet und finanziert.

Immerhin: Nach dem zweiten Weltkrieg wurden zwei wichtige Bestimmungen ins Grundgesetz aufgenommen: Artikel 14 Absatz 2: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Und Artikel 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«

Das ist jetzt auch Schnee von gestern. Denn in Europa gilt nun der Lissabon-Vertrag, der diese beiden Bestimmungen nicht enthält. EU-Recht bricht Landesrecht.

Der Lissabon-Vertrag macht die Grundrechte-Charta europaweit rechtsverbindlich. Das klingt gut. Beispielsweise Artikel 2 der Charta: »Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden.« In den sogenannten Erläuterungen zur Grundrechte-Charta steht allerdings: »Eine Tötung wird nicht als Verletzung des Artikels betrachtet ..., wenn es erforderlich ist ... einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.« Das kann man im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14.12.2007 nachlesen.

Wer also wie einst die Spartakisten jetzt in der Europäischen Union zum Aufstand aufruft und folglich die bestehende Ordnung eines Staates umkrempeln will, verwirkt sein Recht auf Leben. Und wenn die öffentliche Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Ordnung in Gefahr sind, können auch die Meinungsfreiheit und die Freiheit, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben, eingeschränkt werden. Das heißt: Darüber wird nicht berichtet.

Ordnung herrscht. Die herrschende Ordnung. Es gibt keine Alternativen. Gibt es wirklich keine?

Ein Gedicht. Paul Celan schrieb es im Dezember 1967. Er hatte die Gedenkstätte im Gefängnis Plötzensee und den Weihnachtsmarkt in den Messehallen am Funkturm besucht, war am neuen, 1966 erbauten Appartementhaus Eden vorbeigefahren und hatte am Rande des eingeschneiten Tiergartens über die Umstände der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht gelesen.

DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
      stockt.

Auf Initiative von Brigitte Jaschke wurde 2010 dort, wo das Hotel Eden stand, eine Gedenktafel in den Boden eingelassen.