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Titel2017

Seelenabgründe und eine alte Konfliktlinie  (Conrad Taler)

Was der Öffentlichkeit nach der Versöhnung zwischen CDU und CSU als Kompromisspapier präsentiert wurde, war in Wirklichkeit ein Dokument des Scheiterns der einen Seite unter dem Druck von rechts. Angela Merkel ist nicht mehr die, die sie vor der Bundestagswahl war. Ein »Weiter so« nicht bloß in der Flüchtlingspolitik gibt es nicht mehr. Die bayerische CSU verdankt diesen Sieg nicht eigener Stärke, sondern der Alternative für Deutschland (AfD). Ohne deren Einzug als drittstärkste Kraft in den Bundestag hätte Angela Merkel im Streit um die Festlegung einer Obergrenze bei der Zuwanderung nicht kapituliert. Das Wort taucht zwar nirgendwo auf, aber das beschlossene »Regelwerk zur Migration« beschreibt sehr genau, dass umgesetzt werden soll, was die CSU immer gewollt hat: »Wir setzen unsere Anstrengungen fort, die Zahl der nach Deutschland und Europa flüchtenden Menschen nachhaltig und auf Dauer zu reduzieren … Wir wollen erreichen, dass die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen … die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt.« Das ist exakt die Zahl, die der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer immer genannt hat, wenn von Obergrenze die Rede war.

 

An Sprengkraft hat das Thema durch den vermeintlichen Kompromiss nicht verloren, dazu ist es viel zu tief in den Seelenabgründen des deutschen Volkes verwurzelt. Um was es geht, hat der Autor zahlreicher Studien zum Rechtspopulismus und zum Parteiensystem, Frank Decker, im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 4. Oktober so beschrieben: »Es geht, ganz pauschal gesagt, um das Thema des sozialen und kulturellen Zusammenhalts. In der ganzen Aufregung sollte man nicht vergessen: Im Kern ist das Anliegen aller rechtspopulistischen Parteien in Europa die Zuwanderung. Da hat man manches laufen lassen, anstatt den Eindruck einer geordneten Politik und der gemeinschaftlichen Verständigung zu hinterlassen. Man hat zu wenig gesehen, was unter einer Decke des Konsenses wirklich geschieht.«

 

Jetzt rätseln die Auguren, was passiert ist. Von zu wenig Aufmerksamkeit für die sozial Benachteiligten ist die Rede und von einer neuen »Konfliktlinie der Demokratie«. Sie verlaufe zwischen denen, die die Modernisierung befürworten und denen, die ihr skeptisch gegenüberstünden, wie uns eine Studie der Bertelsmann Stiftung glauben machen will. »Die alten Kategorien von rechts und links oder pauschale Ost-West-Zuweisungen greifen zu kurz«, sagt der Autor der Studie, Robert Vehrkamp. Die Flüchtlingspolitik sei weniger eine Ursache als vielmehr ein aktueller Anlass für Protestwähler.

 

Dass die etablierten Parteien nicht wahrgenommen haben, was sich da unter der Oberfläche zusammenbraut, hängt mit ihrer Abgehobenheit zusammen und im Verharren in alten Denkschablonen. Das fängt bei der Linkspartei an und hört bei der CDU auf. Von ungefähr kam es wohl nicht, dass bereits vor der Bundestagswahl der Arbeiteranteil unter den AfD-Wählern mit 33 Prozent so hoch war wie bei keiner anderen Partei.

 

Der kesse Spruch »Wenn ein Engländer arbeitslos wird, geht er angeln, ein Deutscher geht zu den Nazis«, hat einen realen Hintergrund. In vielen Ländern gab es während der Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren Millionen Arbeitslose, aber nur in Deutschland konnte einer wie Hitler mit seinen billigen Parolen davon profitieren. Mit dem Einzug der AfD-Fraktion in den Bundestag hat sich an der politischen Kräfteverteilung nichts geändert, sie ist lediglich sichtbarer geworden. Seit es Meinungsumfragen gibt, weiß man, dass etwa jeder fünfte Deutsche anfällig ist für deutsch-völkische neonazistische Parolen. Das zeigte sich auch beim Ausschluss von Martin Hohmann aus der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag; jeder fünfte Unionsabgeordnete war dagegen oder enthielt sich der Stimme. Jetzt zieht der wegen einer antisemitischen Rede Ausgeschlossene als Abgeordneter der AfD wieder in den Bundestag ein. Die etablierten Parteien sollten das Thema Zuwanderung nicht zum Hauptgegenstand der Auseinandersetzung mit der Alternative für Deutschland im Bundestag machen, sondern sie nach ihrer Haltung zu den Umbrüchen in der Arbeitswelt und einer drohenden Massenarbeitslosigkeit im Gefolge der Globalisierung und der Digitalisierung fragen. Es gibt keine neuen Konfliktlinien, sondern immer noch die eine alte, die zwischen Kapital und Arbeit.