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Titel2212

Postkarten gegen Hitler  (Monika Köhler)

Keiner konnte mehr dem andern trauen – ein Satz, der nicht ausgesprochen werden mußte, ein Satz, der über allem lag. Angst. Irgendwer sagte das in dem Stück »Jeder stirbt für sich allein« (nach dem Roman von Hans Fallada), das Luc Perceval im Hamburger Thalia-Theater auf die Bühne brachte. Nicht dem Nächsten trauen – doch nicht jeder stand so »unbeargwöhnt« da wie Quangel. Der Werkmeister Otto Quangel (Thomas Niehaus) und seine Frau Anna (Oda Thormeyer), ein älteres Ehepaar, das eine Verzweiflungstat beging: Über zwei Jahre lang schrieben sie Postkarten mit Parolen gegen den Führer und den Nazi-Staat und legten sie in Hausfluren ab. Warum? Der einzige Sohn Otto (»Ottochen«) war in Frankreich »gefallen«, wie es hieß. Anna brüllt den Ehemann an, verlangt Taten – aus Wut und Verzweiflung und Scham. Denn beide hatten sich mit den Nazis eingelassen, kleine Mitläufer. Um vor sich bestehen zu können, mußten sie diesen Schritt tun.

Für Falladas Roman – niedergeschrieben in vier Wochen – gab es reale Vorbilder: Johannes R. Becher hatte ihm, dem Nicht-Emigranten, 1946 Gestapo-Akten über ein Ehepaar übergeben, das 1943 nach einem Volksgerichtsurteil durchs Fallbeil hingerichtet wurde. 2011 stieg der Roman plötzlich zum Weltbestseller auf. Der unzensierte Text zeigte das Arbeiter-Ehepaar nicht nur als Helden, sondern verschwieg ihre frühere Mitbeteiligung in Arbeitsfront und NS-Frauenschaft nicht. Die Ambivalenz dieser kleinen Leute, die nur überleben und sich irgendwie durchwurschteln wollten, wurde in der Erstausgabe des Romans, die 1947 erschien, verfälscht dargestellt. Da war Fallada schon gestorben.

Die Hamburger Inszenierung verschweigt nicht ihr Mitläufertum, genauso wenig die Parteimitgliedschaft und den späteren Austritt der Postbotin Eva Kluge (Cathérine Seifert), die den Brief mit der Todesnachricht überbrachte. »Das ist ja unser Leben, diese Karten«, sagt Anna und will nicht an die Folgen denken. Daran, was es bedeutet, wenn dort steht: »Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet.« Sie hat die Utopie, daß die Karten heimlich weitergegeben werden, daß andere auf die gleiche Idee kommen könnten.

Die Wahrheit ist – der Gestapo-Kommissar Escherich (André Szymanski) konfrontiert sie am Ende damit, daß ein Großteil der Karten bei der Polizei abgegeben wurde. Also vergebens geschrieben, wie er suggeriert. Aber doch vorher gelesen. Daß sich das Ehepaar bei den Verhören gegenseitig beschuldigt – Fallada wußte es nicht, dieser Teil der Akten fehlte. Und in der Aufführung versuchen Otto und Anna jeweils die Schuld auf sich zu nehmen.

Der Wechsel vom Dialog zum Erzählen geht oft nahtlos ineinander über und – was Perceval beabsichtigte – schützt vor Sentimentalität. Die Figuren treten aus sich heraus und kommentieren. So wirkt alles distanzierter, muß im Kopf des Zuschauers zusammengesetzt werden. Das Bühnenbild (Annette Kurz): eine riesige Karte von Berlin oder ein Modell der Stadt, mit Häusern, die aus Möbeln und Alltagsgegenständen gebildet sind, an der hinteren Wand. Davor liegen am Boden weitere Teile: Töpfe, Handtaschen, Uhren, Geschirr – alles, was bei Angriffen so liegenblieb – oder bei Plünderungen. Es läßt sich hörbar draufschlagen, um Wut abzureagieren. Auf der Bühne steht nur noch ein Tisch, der für vieles nütze ist – bis zur Hinrichtungsstätte.

Überall, wo die Karten in der Stadt wurden aufgefunden, ließ Kommissar Escherich rote Fähnchen in einen Stadtplan stecken. Meist um den Alexanderplatz herum, in den Arbeitervierteln. Da, wo ich geboren wurde, steckten viele Fähnchen im Plan.

Nach jeder der zwei Pausen jagen die Bewohner der Stadt gehetzt oder wie unter Zwang über die Bühne – auch, um in den Luftschutzkeller zu kommen? Die Jüdin Lore Rosenthal stürzt sich aus dem Fenster. Zwei kommen mit Taschenlampen, die Rosenthals seien doch Millionäre gewesen, da müsse ja irgendwo Gold zu holen sein, Schmuck. Zu diesen Kleinkriminellen gehören der, sich selbst bemitleidende, Frauenheld und Spieler Enno Kluge (Daniel Lommatzsch) und Emil Barkhausen (Alexander Simon), der sich als Spitzel benutzen läßt und – wie mancher hier – mehrere Rollen spielt. Alle sind miteinander verstrickt und kämpfen – jeder für sich allein –, um ihr Leben zu retten, und bleiben doch die ewigen Verlierer. Die kleinen und größeren Nazis sind grausam oder wirken fatal komisch. Exquisit böse, Barbara Nüsse als SS-Obergruppenführer Prall, sich wie ein betrunkener Gnom anschleichend. Oder als Kammergerichtsrat a.D. Fromm – einst der »blutige Fromm« genannt – der nun Mitgefühl zeigt und dem verurteilten Quangel eine Ampulle Blausäure zusteckt. Kommissar Escherich, der sich unter Druck fühlt, weil er den Kartenschreiber noch immer nicht gefunden hat, greift sich Enno Kluge, den von Eva verstoßenen Ehemann, und erschießt ihn nach einem langen Gespräch, am Schlachtensee – als Selbstmord deklariert. Später erschießt er sich selbst in seinem Büro.

Die kleinen Nazis mit einer Funktion, Uniformträger, sollen – zur Auflockerung – lächerlich wirken. Da ist ein Dialekt wohlfeil, Sächsisch oder Hamburger Slang (»Labskaus«). Es wirkt überzogen. Nur das Wienerisch des Kommissars Laub (Alexander Simon) klingt grauenerregend gemütlich. Wie er mit dem Verhörscheinwerfer herumtanzt, so daß Licht auf das Modell von Berlin fällt und einzelne Häuser scharf daraus hervorstechen, ein glänzender Regie-Einfall.

Trudel Baumann (Maja Schöne), die mit »Ottochen«, dem Gefallenen, fast verlobt war und später den Elektriker Karl Hergesell (Mirco Kreibich) heiratete, ist Mitglied einer kommunistischen Zelle in ihrem Betrieb. Hergesell wird von Nazis zusammengeschlagen und stirbt im Gefängnis. Auch Baumann wird gefaßt, sie stürzt sich in den Tod.

Und Otto Quangel? Seine Hinrichtung findet statt, doch wird sie nur angedeutet. Sein Kopf hängt vom Tisch herunter, der Mund, aufgerissen – er hatte das Gift nicht rechtzeitig nehmen können. Anna saß lange da mit verklärtem Gesicht. Der Tod Ottos wurde ihr verschwiegen. Das Fläschchen hatte sie weggegossen. Eine Luftmine auf das Gefängnis bringt sie um.

Alles erschreckend, nur Tote?

O nein. Schon Fallada, und nun auch Perceval, läßt alles versöhnlich ausgehen. Ein Pferdewagen, auf dem die Übriggebliebenen sitzen, fährt in eine verheißungsvolle Zukunft. Es ist fast wie bei Eichingers »Untergang«, wo Hitlers Sekretärin zukunftsfroh in den Westen radelt. Allzu optimistisch, der Schluß. Das Leben der Kleinbürger im Berlin der Nazizeit so dicht zu zeichnen, zu zeigen, daß auch sie Widerstand leisten konnten, das hatte schon Fallada erreicht. Und den dicken Wälzer Falladas auf kurze viereinviertel Stunden reduziert zu haben und ihn zu übertreffen, das schaffen Luc Perceval und sein phantastisches Ensemble.