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Titel2214

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Ab und an führt mich mein Weg in das Theater Thikwa; so konnte ich ein ziemlich außerordentlichen Ereignis sehen: Eine außerordentliche Schauspielerin (Anne Tismer) hat den außerordentlichen Film eines außerordentlichen Regisseurs in einen außerordentlichen Theaterabend verwandelt: »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« von Luis Buñuel. Er heißt nun »Der diskrete Schwarm der Bourgeoisie« und zeigt das gesamte grausame Klassen-Interieur quasi seitenverquer: Was im Film böse Satire war, wird hier einfach in eine Art Plüschmöbel-Milieu verwandelt, nur lächerlich gemacht. Ich fand es so amüsant wie köstlich. Doch hat die Tismer diese Szene nicht auch entschärft, das Ganze nicht bloß als harmlos lächerlich gemacht?

Aber Thikwa zeigt auch »Vogelfrei«, das ist kein Schreibfehler, sondern ein »Hörstück zum Sehen«, was als Theaterexperiment bezeichnet wird. Es spielt ganz schlicht auf einem Platz inmitten einer großen Stadt, und dort versucht man allerlei um »Freiheit«. Dieser meist mißbrauchte Begriff der Gegenwart, der lediglich den Übergang von einer Diktatur (der Panzer) zu einer anderen (der Banken und Konzerne) vertuschen sollte, wird hier spielerisch und mit einer gewissen Anmut verwandt: Einige Personen versuchen etwas in vorgetäuschter Naturlandschaft, kreieren den Klang einer Idylle von zweifelhaftem Wert: ein klein wenig Freiheit, mal grad zum Atemholen, im Grunde ein Spiel der Phantasie, mehr nicht. Man muß dazu nicht unbedingt in die Fidicinstraße reisen.

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Dagmar Manzel in der Komischen Oper? Warum nicht – singen kann sie. Angekündigt waren Lieder von Friedrich Hollaender. Das Wetter war schlecht, beinahe wäre ich nicht hingefahren. Glück, daß ich es tat, es war Ausnahme, geradezu fein, doch ohne Trost: »Die Lieder eines armen Mädchens«, »Die Kleptomanin«, gar »Das Heimweh nach dem Traurigsein«, im tiefsten Sinne jüdisches Empfinden – wie hat die Manzel das nur gestalten können? Eben ganz einmalig als Schauspielerin. Da kann sich der Kritiker, da muß sich der Jude verneigen!
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Ein Thalbach-Abend, sozusagen ein Frauen-Ereignis: »Großmutter, Mutter und Kind in einem Theater-Opus vereinigt sind.« So könnte man – den Rhythmus eines alten Gedichts aufnehmend – diesen Theaterabend am Kurfürstendamm bereimen. Zwei Stücke von Gerhart Hauptmann, »Der Biberpelz« (1893) und »Der rote Hahn« (1901), kamen – offenbar von einer nicht sehr erfolgreichen Brechtidee von 1951 angeregt – unter dem Titel »Roter Hahn im Biberpelz« in der Komödie am Kurfürstendamm mit den drei Thalbach-Damen Katharina, Tochter Anna und Enkelin Nellie auf die Bühne. Das Damentrio war schon originell, Stückfassung und Inszenierung kaum. Die beiden Stücke vom gleichen Autor passen eben nicht zusammen, das mußte schon ein Brecht begreifen. Sicher lagen hier die Probleme bereits in Stoff und Dramaturgie, weniger an den Darstellerinnen.
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Ballhaus Ost, sozusagen neben meiner Haustür: »Brauner Zucker«, eine Art Revue einer Gruppe von neun Spielern, die sich »Initiative 77« nennt und faschistoide Kreise ins Visier nimmt. Gut gebrüllt, Löwe, möchte man aus vollem Herzen rufen. Aber die jungen Leute schafften es nun wirklich nicht, die Fratzen deutlich zu machen beziehungsweise das, was hinter diesen steckt: purer Faschismus! Schade, denn wie nötig wäre das! Noch leben einige, die den Faschismus überlebt haben, gute Bücher (belletristische wie historiografische) gibt es auch. Sollte man nicht lernen oder sich wenigstens verständigen können!
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Versucht hat das in der letzten Spielzeit in den Sophiensälen das »Institut für künstlerische Forschung« mit dem Projekt: »Infame Perspektiven«. Das war Theater, und man hat dessen Mittel genutzt, um hinter Motive schlimmer Verbrechen sowie deren Wirkung auf normale Zuschauer oder Leser zu kommen. Das scheint mir wichtig – das schlimme Vergangene und mögliches Kommende durchsichtig zu machen, um besser gewappnet zu sein.
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Das hohe Attribut »Aufklärung« als historisch-philosophische Kategorie kann neben dem Theater 89 (ich sah dort zuletzt eine Fassung von Texten Bölls »Ansichten eines Clowns«) auch das Theater im Palais für sich in Anspruch nehmen, verbunden mit gehöriger Unterhaltung. Sein Programm verzeichnete zuletzt neben Molière (»Der eingebildete Kranke«) unter anderem auch Goethes köstlichen »Reineke Fuchs«. Das Epos einer Abrechnung mit seiner Zeit mag gefallen – satirische Schärfe mit aktuell Anzüglichem. Aber »Faust«? Sicher: Als Arbeit des Jugendclubs mochte diese Vorführung Sinn haben.
Waren es nicht Wolfgang Heinz und Adolf Dresen, die die kulturelle Szene Berlins – und nicht nur die östliche – erregt hatten, und es gab keinen zweiten Teil mehr?! Als interessanter Versuch mochte Peter Steins ungekürzter Gesamtfaust (über 20 Stunden) aus dem Jahr 2000 gelten, aber erregt hatte der nicht. Man weiß seither noch besser, daß die Weltdichtung »Faust« kein gutes Theaterstück und so in der Theaterpraxis kaum zu machen ist. Wäre »Faust« nicht eine Arbeit des Jugendclubs gewesen, die inzwischen zu den »abgespielten Vorstellungen« gehört, müßte man warnende Signale geben!
Ansonsten Abende mit E. T. A. Hoffmann, sozusagen Berlin-Töniges, mit Kästner, Ringelnatz, Adaptionen nach E. A. Poe »Das Geheimnis des Doktor Templeton« (Wolfram Moser) und Oscar Wilde »Lord Savils Verbrechen« (Hans Jaray), Kabarett-Erinnerungen an Claire Waldoff und Günter Neumann. Freilich ist da manches schon recht verblaßt. Da sind die literarischen Atemzüge von Christa Wolf und Brigitte Reimann, ausgeatmet, das heißt vorgetragen von Cornelia Schmaus und Jennipher Antoni schon tiefer und näher der gegenwärtigen Zeit. Gab es denn keinen originelleren Titel als »Was bleibet aber stiften die Dichter«? Nichts gegen diesen berühmten Vers, aber hier, sozusagen nur als Zugpferd? Die Schauspieler Jens-Uwe Bogadke, Carl Martin Spengler, Gabriele Streichhahn trugen mit der Pianistin Ute Falkenau und einigen anderen dies ziemlich umfassende Programm – vom »Palast« zum Palais – ein Lob dieser Arbeit!
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»Faust« wird übrigens auch vom Pfefferbergtheater im Prenzlauer Berg malträtiert. Genauer Titel: »Zur Hölle mit Faust«. Urheber sind die Woesner Brothers & Company, die so tun, als ob sie US-Amerikaner sind. Sind wir schon der 51. Bundesstaat? Viel Staat machen sie freilich mit ihrer allzu »leichtfüßigen Komödie«, die sie aus dem angeblich »schwerfälligen Fauststoff« gestriegelt haben, keineswegs. So herunterzukommen haben Stück und Verfasser nicht verdient. Merkwürdig, wie wenig viele Deutsche ihre großen Klassiker lieben. Weder in England, Frankreich noch Rußland habe ich derlei Gemache erlebt. Am Rande lese ich, daß dies Theaterchen »Teil der Schankhalle Pfefferberg gGmbH« ist. Na ja, da paßt wirklich einiges nicht zusammen!