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Titel2412

Zweierlei Maß  (Ralph Hartmann)

Wenn der Name Peer Steinbrück fällt, muß ich häufig an einen meiner früheren Chefs, an Hermann Axen, denken. Dabei haben doch beide wenig Gemeinsames. Als Peer 1947 in Hamburg das Licht der Welt erblickte, war der 1916 in Leipzig geborene Hermann bereits 31 Jahre alt. Der kleine Hamburger wuchs in einem bürgerlich-konservativen Umfeld auf – sein Vater war Architekt und sein Urgroßonkel, Adelbert Delbrück, war einer der Gründer der Deutschen Bank. Der Leipziger entstammte einer aus Galizien eingewanderten bürgerlichen jüdischen Familie. Als junger Mann nahm er aktiv am illegalen antifaschistischen Kampf gegen die Nazi-Diktatur teil. 1935 wurde er wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. 1938 gelang ihm die Flucht nach Paris, wo er zwei Jahre später interniert und 1942 an die Gestapo ausgeliefert wurde. Bis zur Befreiung vom Faschismus wurde er in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald, in denen er den illegalen Lagerleitungen angehörte, gefangen gehalten. Im Geburtsjahr Steinbrücks trat er der SED bei, in der er zahlreiche hohe Funktionen ausübte, unter anderem als Chefredakteur des Neuen Deutschland, ab 1963 als Kandidat und von 1970 bis November 1989 als Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees, verantwortlich für internationale Beziehungen. Wenige Jahre nach dem Untergang der DDR verstarb er.

Steinbrücks bisheriges Leben verlief weniger dramatisch. Seine Karriereleiter hatte viele Sprossen, aber sie führte ihn, er war 1969 in die SPD eingetreten, nach einem Studium der Volkswirtschaft und der Sozialwissenschaft kontinuierlich nach oben – vom Referenten in mehreren Regierungsinstitutionen, unter anderem im Kanzleramt von Helmut Schmidt, bis ins Amt des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. 2005 wurde er in der schwarz-roten Großen Koalition unter Angela Merkel Bundesfinanzminister. Nachdem er sich hier bei der milliardenschweren Rettung der Banken, besonders der Hypo Real Estate, sowie im Eintreten für Deregulierungen der Finanzmärkte und gegen Konjunkturprogramme hervorgetan hatte, verlor er 2009 nach der SPD-Wahlschlappe sein Regierungsamt, zog jedoch über die SPD-Landesliste von NRW in den Bundestag ein. Obwohl er hier immer wieder durch Abwesenheit glänzte, wurde er, protegiert vor allem von Altkanzler Helmut Schmidt, am 1. Oktober 2012 vom SPD-Parteivorstand einstimmig zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahlen 2013 gekürt.

Wie gesagt, zwischen dem verstorbenen Antifaschisten Hermann Axen und dem agilen Neoliberalen Peer Steinbrück gibt es tatsächlich wenig Gemeinsames. Doch eine persönliche Eigenschaft teilten sie: Beide hatten scheinbar den Spruch des italienischen Komödiendichters Carlo Goldoni: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« verinnerlicht und sich für Letzteren entschieden. Axen, der während der Hitlerdiktatur und in den Konzentrationslagern sein gesamtes Eigentum verloren hatte, häufte allein in 45 Jahren in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR in den genannten und anderen leitenden Funktionen ein unglaublich hohes Sparguthaben von sage und schreibe 234.873,07 Mark der DDR beziehungsweise 117.436,53 DM an. Zu Recht wurde dieses zusammengeraffte Geldvermögen 1990 mit der Begründung eingezogen, daß er sich »durch Mißbrauch seiner Funktionen, durch Inanspruchnahme von selbstbestätigten Privilegien und durch Handlungen, die einen gröblichen Verstoß gegen die guten Sitten darstellen, sich und anderen persönliche Vorteile zum Nachteil der Gesellschaft verschafft hat«.
Ganz anders der ebenfalls dem schnöden Mammon frönende Steinbrück. Durch selbstlose fleißige Nebenarbeit verdiente er sich neben seinen Diäten als Bundestagsabgeordneter von jährlich 92.016 Euro in den zurückliegenden drei Jahren rund zwei Millionen Euro dazu: unter anderem 1,25 Millionen Euro für Vorträge, 550.000 Euro Buchhonorare, 115.000 Euro Vergütung für sein Aufsichtsratmandat bei ThyssenKrupp. Bei einigen Neidhammeln stießen die schwer erarbeiteten Nebenverdienste auf Kritik, die von den Spitzenleuten der SPD umgehend zurückgewiesen wurde. Generalsekretärin Andrea Nahles bezeichnete sie als »erlogen« und Parteichef Sigmar Gabriel brachte seine tiefe Überzeugung zum Ausdruck, daß es trotz der Nebeneinkünfte für Steinbrück auf dem Parteitag »ein überwältigendes Votum« geben würde. Selbst der für seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn bekannte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sprang Steinbrück zur Seite und bezeichnete die Kritik als »nicht berechtigt«: »Es ist seine Angelegenheit, ob er Vorträge hält und Bücher schreibt und dafür Einnahmen hat.«

Sie alle haben nur allzu Recht. Der SPD-Kanzlerkandidat hat nicht gegen die »guten Sitten« verstoßen. Ganz im Gegensatz zu dem raffgierigen Axen. Dessen Geldgier hatte ganz offensichtlich auch auf seine Witwe Sonja abgefärbt. Wie anders ist es zu erklären, daß sie sich erdreistete, unter Hinweis auf die Inhaftierung ihres verstorbenen Ehemanns in den KZ Auschwitz und Buchenwald eine ihr gesetzlich zustehende (Hinterbliebenen-) Entschädigungsrente, so lautet das Wortungetüm tatsächlich, zu beantragen. Gerechterweise lehnte der 4. Senat des Bundessozialgerichtes ihre Klage ab, da ihr verstorbener Ehemann als Mitglied des Politbüros der SED »gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen« habe.

Im Nachhinein betrachtet, war es von ihr auch ziemlich naiv anzunehmen, daß die Witwe eines kommunistischen Holocaust-Überlebenden in der Bundesrepublik eine solche Opferrente erhalten könnte. Diese stand nach dem bereits 1950 erlassenen »Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges« nicht den Hinterbliebenen von kommunistischen Nazigegnern vom Schlage eines Hermann Axen, sondern gerechterweise denen von Nazitätern zu. Folgerichtig kamen in den Genuß dieser Zusatzrenten zum Beispiel auch die Witwen des Massenmörders und SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich und des entmenschten Chefs des Hitlerschen Volksgerichtshofes Roland Freisler sowie die Töchter von Heinrich Himmler und Hermann Göring.

Zurück zu Steinbrück. Kürzlich hat er via Internet von der Linkspartei »eine Aufarbeitung ... ihrer geschichtlichen Wurzeln mit der SED« gefordert. Zwar hat keine andere bundesdeutsche Partei in den zurückliegenden 23 Jahren auch nur annähernd so intensiv ihre »geschichtlichen Wurzeln« »aufgearbeitet« wie die PDS beziehungsweise die Linke, aber als erfahrener Demokrat, der sich in globalen und privaten Finanzfragen auskennt, könnte der SPD-Hoffnungsträger Aufarbeitungshilfe leisten und zum Beispiel untersuchen, wie sich Hermann Axen und andere SED-Größen maßlos bereicherten. Über das Ergebnis könnte er in einem Vortrag berichten. Selbstverständlich ohne Honorar, schließlich ist er jetzt Kanzlerkandidat.