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Titel2518

Abwarten und Tee trinken  (Johann-Günther König)

Auf dem Leeds Christkindelmarkt, einem der größten »German Christmas mar-kets« auf der Insel, kommt im heillosen Gedränge gewiss keine Langeweile auf. Auf dem Millennium Square sorgen ein Karussell und mehr als 40 Holzhütten für adventsfestliche Stimmung – einschließlich deutscher Speisen und Getränke sowie prall gefüllter Auslagen mit Weihnachts- und Geschenkartikeln aller Art. Süßer die Glocken nie klingen? Wohl kaum, denn ein von den Brexiteers ersehntes Weihnachtsgeschenk fehlt im Angebot: der ihnen von der Regierung versprochene, äußerst vorteilhafte »deal« mit der EU. Stattdessen gibt es die auf dem Brexit-Sondergipfel am 25. November in Brüssel beschlossene politische Erklärung über die künftige Zusammenarbeit sowie das Abkommen über den Austritt Großbritanniens aus der EU, das Brexiteers oder gar Remainers nicht einmal geschenkt haben möchten. Der zur Überwachung der Brexitverhandlungen eingerichtete Unterhaus-Ausschuss Committee on Exiting the European Union beschied extrem ernüchtert, das von Theresa May erzielte Verhandlungsergebnis sei abgrundtief schlecht, es offeriere weder ausreichende Klarheit noch eine sichere Zukunft für das Vereinigte Königreich. Bezeichnenderweise trat Brexit-Minister Dominic Raab nach der Unterzeichnung des von seiner Chefin als alternativlos bezeichneten Austrittsabkommens von seinem Amt zurück. Er kritisierte die viel zu starke Einschränkung von Souveränitätsrechten, beschwor die Bedrohung der Integrität des Vereinigten Königreichs und resümierte, Mays »Brexit deal« sei schlimmer, als ein Verbleib in der EU.

 

Der wirtschaftlich starken und mit einer Heerschar von fachlich ausgewiesenen Verhandlern agierenden EU haben die zunächst ziemlich überheblich agierenden britischen Vertreter seit März 2017, als sie den Brexit-Countdown starte-ten, offenbar nicht das Wasser reichen können. Dass in Theresa Mays Kabinett inzwischen bereits der dritte Brexit-Minister dient und in den letzten Monaten insgesamt acht Minister und mehrere Staatssekretäre ersetzt werden mussten, spricht Bände. Und was hat der nach intensiven, strittigen Verhandlungen endlich vorgelegte Austrittsvertrag zu bieten, der laut May den Willen der 52 Prozent, die für den Brexit gestimmt haben, erfüllt? Das völkerrechtlich wirksame Dokument ist fast 600 Seiten stark und umfasst in 185 Artikeln und drei Zusatzprotokollen alle relevanten politischen, ökonomischen und finanziellen Felder (vgl. den Text unter www.gov.uk). Es sieht ab dem Auslaufen der britischen Mitgliedschaft am 29. März 2019 eine Übergangszeit bis mindestens zum Jahresende 2020, maximal bis zum Jahresende 2022 vor, während der sich zunächst so gut wie nichts ändert, das Königreich also im Binnenmarkt und der Zollunion verbleibt, generell sämtliche unionseuropäischen Regeln und Praxen einhalten muss und den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes unterliegt. Auch die mehr als drei Millionen EU-Bürger im Vereinigten Königreich wie auch die mehr als eine Million Inhaber britischer Pässe in den verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten behalten alle ihre bislang gewohnten Rechte auf Aufenthalt, Ansprüche an die Sozialkassen et cetera. Bis zum Ende der Übergangszeit bleiben nicht zuletzt alle Zahlungsverpflichten des Königreichs bestehen (einschließlich »Britenrabatt«).

 

Und was ändert sich dem Austrittsvertrag zufolge ab dem Beginn der Übergangszeit? Als Drittstaat kann das Vereinigte Königreich dann nicht länger in den Gremien Brüssels, in der Kommission, im Rat und im EU-Parlament mitbestimmen und -reden. Stattdessen sollen die Verhandlungen über die zukünftigen vertraglichen Beziehungen sowie über das in der politischen Absichtserklärung postulierte »Freihandelsgebiet« ohne Zölle, Abgaben und mengenmäßige Beschränkungen abgewickelt werden. Angestrebt wird eine »ehrgeizige, weitreichende und ausgewogene wirtschaftliche Partnerschaft«; darunter auch die weitere Teilnahme des Königreichs an EU-Programmen für Wissenschaft, Bildung, Jugend- und Kulturförderung. Um die Beeinträchtigungen für die Bürger so gering wie möglich zu halten, sollen »kurzzeitige Besuche« visafrei bleiben. Eng kooperieren wollen Großbritannien und die EU im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und illegale Migration, Cyber-Attacken und Desinformationskampagnen sowie generell in Justizfragen und bei der Strafverfolgung. Zu-dem bekennen sich beide Akteure zum Pariser Klimaabkommen und streben im Rahmen von NATO und UNO eine enge Abstimmung an. Die Verhandlungen über finanzielle Regelungen, etwa für die Pensionslasten der EU, sollen mittels einer »fairen Berechnungsmethode« geführt werden. Vor allem aber »wollen« beide Parteien in der Übergangsphase eine dauerhafte Lösung für die irische Insel finden, deren seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 bestehender fragiler Frieden nicht gefährdet werden soll. Um die Wiedereinführung einer Grenze mit Schlagbäumen und Kontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitgliedstaat Irland auszuschließen, sieht der Vertrag im Falle des Scheiterns sinnvoller handelsvertraglicher Vereinbarungen den sogenannten Backstop vor. Nach dieser Regelung muss das gesamte Königreich zwangsweise solange in einer Zollunion mit der EU und Nordirland de facto auch im Binnenmarkt verbleiben, bis eine dem Freitagsabkommen entsprechende »grenzfreie« Irlandlösung zustande gekommen ist.

Nun sollten eigentlich die Abgeordneten des Unterhauses am 11. Dezember über den Austrittsvertrag abstimmen. Da trotz aller Versuche der Premierministerin, mit der Parole »Mein Deal, kein Deal oder kein Brexit« eine ausreichende Mehrheit hinter ihr Verhandlungsergebnis zu bringen, eine massive Abstimmungsniederlage im Raum stand, sagte sie die Parlamentssitzung kurzerhand ab. Nicht zuletzt die als Notfalllösung gedachte, zeitlich unbegrenzte Backstop-Regelung stieß und stößt nach wie vor zumal bei den harten Brexiteers aus ihren eigenen konservativen Reihen auf eisige Ablehnung. Zwar scheiterte deren innerparteiliches Misstrauensvotum am 12. Dezember, denn Theresa May konnte eine Mehrheit der Tory-Abgeordneten hinter sich bringen und im Amt verbleiben. Da aber immerhin 117 der Tory-Parlamentarier gegen sie gestimmt haben, wird es auch beim zweiten Anlauf im Parlament – wohl Mitte Januar 2019 – kein Selbstläufer, eine Mehrheit für ihren Deal mit der EU zu gewinnen.

 

Der Conservative Party konnte übrigens schon Karl Marx nichts abgewinnen. Während seiner Zeit als Emigrant in London befand er 1852 über die Tories: »Sie wollen eine politische Macht aufrechterhalten, deren gesellschaftliche Grundlage zu existieren aufgehört hat«, und fuhr fort: »Und wie können sie das erreichen? Durch nichts Geringeres als eine Konterrevolution, d. h. durch eine Reaktion seitens des Staates gegen die Gesellschaft. […] Ein solches Unterfangen aber muß notwendig mit ihrem eignen Untergang enden; es muß die soziale Entwicklung Englands beschleunigen und sie zuspitzen, es muß eine Krise herbeiführen.« (MEW, Bd. 8, S. 337f.)

 

Wie es scheint, arbeiten die Tories immer intensiver an ihrem von Marx thematisierten »eignen Untergang«. Zum einen sind die von Jacob Rees-Mogg an-geführten Brexiteers mit den unionsfreundlicheren Mitgliedern der Partei bis auf die Knochen zerstritten, zum anderen stellt die Conservative Party genau die Regierung, die das Königreich in eine gewaltige politische, gesellschaftliche, ökonomische, finanzielle und kulturelle Krise zu stürzen im Begriff ist. Bezeichnenderweise sind Theresa Mays hartnäckig-ignoranten Versuche, zahlreiche Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten für eine Nachverhandlung des Austrittsvertrages zu gewinnen, gescheitert. Als Kanzlerin Merkel und ihre Kolleginnen und Kollegen am 13. Dezember zu ihrem letzten EU-Gipfel des Jahres 2018 zusammenkamen, berieten sie auf Wunsch von May zwar erneut über Auswege in der umstrittenen Irland-Frage. Jeglichen Änderungen an dem mühsam ausbalancierten Austrittsabkommen erteilten sie jedoch eine Absage (übrigens hatte der Bundestag zuvor mit den Stimmen der Koalitionsparteien den Regierungsantrag beschlossen, das Brexit-Abkommen nicht wieder aufzuschnüren). Die EU-Partner ließen sich lediglich auf eine Erklärung ein, in der es heißt, der Backstop diene als »Versicherung« dazu, »dass auf der Insel eine harte Grenze vermieden wird«. Die britische Presse beurteilte Mays Verhandlungsdesaster in Brüssel entsprechend als »Demütigung« und »vernichtenden Schlag«.

 

In welcher Form das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen wird, ist aufgrund der chaotisch agierenden britischen Regierung samt der sie unter Druck setzenden nordirischen Unionistenpartei (DUP) und der politisch ziemlich lahmgelegten Premierministerin nicht seriös einschätz- und vorhersagbar. Hinzu kommt die Zerrissen- beziehungsweise Unentschlossenheit der Opposition – der Labour-Partei, der Liberal-Demokraten und der schottischen Nationalpartei. Wenn der Austrittsvertrag im Januar vom Unterhaus nicht ratifiziert wird, weil die Mehrheit der Abgeordneten die vertraglich fixierte Backstop-Regelung ablehnt, könnte alles Mögliche passieren. Ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen die Regierung etwa zwänge sie zum Rücktritt oder zur Auflösung des Unterhauses und einer vorgezogenen Neuwahl. Der Oppositionsführer Jeremy Corbyn (Labour) wird es jedenfalls umgehend dann initiieren, wenn er die bislang die Regierung tolerierende DUP dafür ins Boot bekommt. Wird sich das Parlament gar zu einem zweiten Referendum durchringen oder doch lieber den ungeordneten beziehungsweise harten No-Deal-Brexit in Kauf nehmen?

 

Wir werden hoffentlich nicht erleben, dass Großbritannien am 29. März 2019 ohne Abkommen und ohne Übergangsfrist aus der EU aussteigt. Zu den schon eifrig herbeifabulierten Katastrophenszenarien von endlosen Lastwagenschlangen bis hin zur Arznei- und Nahrungsmittelknappheit wird es aller Wahrscheinlichkeit nach wohl nicht kommen. Auch die Chance auf ein zweites Referendum scheint eher gering denn groß. Angesichts der vielen Brexiteers in den beiden großen Fraktionen gibt es dafür bislang keinen parlamentarischen Rückenwind – im Übrigen fehlt laut den Umfragen nach wie vor eine wirklich klare Zustimmung der Bevölkerung zum Verbleib in der EU. Eine Volksabstimmung könnte frühestens um den 1. Juni 2019 stattfinden.

 

Mag sein, dass aufgrund der wenig erfreulichen No-Deal-Aussichten das Unterhaus den Austrittsvertrag im Januar wider Erwarten durchwinkt. Theresa May kann die Zustimmung womöglich durch das Zugeständnis erkaufen, den Abgeordneten den noch auszuhandelnden Vertrag über die zukünftigen Beziehungen zur Abstimmung vorzulegen. Abwarten und Tee trinken. Der Europäische Gerichtshof hat auf Antrag Schottlands am 10. Dezember gleichsam rechtzeitig für ein verführerisches Süßungsmittel gesorgt. Bis zum 29. März 2019 kann die bri-tische Regierung den Brexit jederzeit einfach stoppen – und zwar völlig unabhängig von der Zustimmung der anderen 27 EU-Mitgliedstaaten.