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Titel052013

Zurück zur Natur, vorwärts zur »Vernatürlichung«  (Winfried Wolk)

Ein neues Schönheitsideal ist im Werden, so hörte ich vor kurzem in einer Radiosendung. Der neue Trend heißt »Vernatürlichung«, jedenfalls nannten ihn die Damen und Herren der Diskussionsrunde so. »Vernatürlichung« ist nicht nur eine besonders schöne Wortschöpfung, sie wird ab sofort eine wichtige Voraussetzung sein, uns im Beruf erfolgreicher werden und im privaten Leben wahrer aussehen zu lassen. Das bedeutet Revolution!

Diese Begriffsfindung zeigt aber auch, daß wir bisher in einer Epoche der »Verkünstlichung« lebten, in der Natürliches wenig geschätzt wurde. Fast hätte niemand bemerkt, daß das elementare »Sein« bisher viel weniger galt als der mit Vehemenz verbreitete »Schein«. Das soll nun unwiderruflich zu Ende gehen. Wenn ich das richtig verstanden habe, wird es keine Photoshop-geschönten Gesichter und Körper mehr in den Magazinen geben, keine in teuren Diäten schlank gehungerten Leiber, keine Botox-geglättete, faltenlose Haut, die auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zur Schau getragen wird. Auch diesen Jahrmarkt wird es nicht mehr geben und auch keine teuren Blondierungscremes für den unvermutet aus der Gruft wieder auferstandenen, Sonnenbrille tragenden, eigentlich Gott sei Dank längst vergessenen Sänger, der in fremden Liederbereichen wildernd, unverständlicherweise plötzlich wieder unglaubliche mediale Aufmerksamkeit erfährt. Das alles wird künftig durch die zunehmende »Vernatürlichung« vorbei sein, denn, wir erinnern uns schwach, die wahre Schönheit kommt von innen. Natürlich kann die »Vernatürlichung« nicht auf äußerliche Merkmale beschränkt bleiben. Sie müßte allumfassend sein und auch für das Denken und Handeln gelten. Die gerade noch als völlig überholt geltende Maxime »Ehrlich währt am längsten« wird wahrscheinlich wieder zu Ehren kommen.

Niemand wird sich dann einen Doktortitel zurechtlügen. Keiner muß klüger scheinen als er ist, auch nicht, um für hohe Ämter geeignet zu erscheinen. Keiner schreibt mehr ab, jeder bekennt sich zur eigenen Gedankenlosigkeit. Das Thema »Person und Gewissen« beispielsweise würde ganz gewiß dann zuerst am Beispiel der eigenen Person betrachtet. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob die Kategorie »Gewissen« überhaupt in bemerkbarer Größe bei Personen zu finden ist, die als Berufspolitiker hohe Ämter bekleiden. Deren Verhältnis zur Wahrheit spricht dagegen. Ich wage gar nicht daran zu denken, was passiert, wenn man den Gewissensaspekt auch auf das Verhältnis gewisser, ganz wichtiger Personen zu illegal eingenommenem Geld ausdehnt. Man könnte sogar noch weiter gehen und unter diesem Gesichtspunkt die Entscheidungen einer gewissen Partei betrachten, die sich christlich nennt. Man könnte deren Verteidigungsminister die Gewissensfrage stellen, was dessen Forderung nach Kampfdrohnen angeht, mit denen man ohne Gerichtsverhandlung und Schuldspruch Menschen einfach umbringen kann. So gesehen, könnte eine Epoche der »Vernatürlichung« auf das Gewissen bezogen eine wunderbare, weil ehrliche Welt schaffen.

Ein älterer Spitzenpolitiker einer kleinen, eigentlich überflüssigen Minderheitspartei ist allerdings bereits vorgeprescht, bevor ein erster Vorläufer der neuen Welle der »Vernatürlichung« die Allgemeinheit erreicht hat. Die natürliche Freude am anderen Geschlecht wollte er nicht verklemmt für sich behalten, sondern sie auch offen und ehrlich dem anderen Geschlecht mitteilen. Das wurde von diesem aber gründlich mißverstanden und hat uns eine wochenlange Medienaufregung beschert. Es wird wohl noch eine gewisse Zeit dauern, bis wir mit den ersten positiven Auswirkungen des neuen Schönheitsideals der »Vernatürlichung« rechnen können.