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Die Exmatrikulation des Rektors  (Heinrich Fink)

Anfang November 1991 wurde ich von Mitgliedern unseres Studentenparlamentes gefragt, ob ich bereit sei, für die Wiederwahl als Rektor zu kandidieren. Ich sagte zu, ermutigte aber die Studenten, sich auch um eine Kandidatin für dieses Amt zu bemühen. In dem ausführlichen Gespräch erwähnte ich auch, daß ich im Dezember 1990 bei der Gauck-Behörde beantragt hatte, zu prüfen, ob es über mich irgendwelche Einträge gebe, und daß ich im Februar 1991 die Antwort bekommen hatte, es lägen keine Hinweise vor. Ich wiederholte vor den Studenten meine früheren Aussagen, daß ich nie als Informeller Mitarbeiter für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit tätig war und auch nie eine Verpflichtungserklärung abgegeben hatte. Die Studenten waren beruhigt – in einer Zeit, als der Volkskammerbeschluß, nach dem jeder, dem Kontakt oder gar Mitarbeit bei der Stasi nachgewiesen worden ist, fristlos gekündigt werden kann, auch in unserer Universität zunehmend für Turbulenzen sorgte.

Im Studienjahr 1991/92 waren 4.988 Studenten zu immatrikulieren. Eine Anzahl, die die Universität nie zuvor zu bewältigen hatte.

In Diskussionen mit dem Studentenrat und dem Akademischen Senat und in einer Dienstbesprechung bei mir ging es nun darum, Festredner für die Immatrikulationsfeier zu finden, die in Fragen von demokratischer Neuordnung, Verständigung und internationalem Engagement ausgewiesen waren.

Wenige Wochen zuvor hatten brutale Übergriffe auf Ausländerwohnheime in Hoyerswerda die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Studenten fuhren spontan nach Hoyerswerda und zollten den Betroffenen ihre Solidarität, wenn auch ratlos angesichts des aggressiven Nationalismus. Im August hatte ich in Oslo an einer von dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel (Boston, USA) initiierten Konferenz »Dialog gegen den Haß« teilgenommen, die mit der Verabschiedung einer »Osloer Erklärung gegen Haß« zu Ende gegangen war. Elie Wiesel fragte mich während der Tagung, ob es in Deutschland im Einigungsprozeß aktuelle Fälle von Rassismus gegeben habe. Hatte er doch als Jude bittere Erfahrungen mit deutschem Antisemitismus gemacht. Seine Befreiung hatte er als Siebzehnjähriger im KZ-Buchenwald erlebt. Dies erzählte ich den Studenten, und wir sprachen über die »Erklärung von Oslo«. Sie schlugen vor, Elie Wiesel als Redner einzuladen. Er sagte zu. Über den Zusammenschluß Deutschlands als Erneuerungsprozeß sollte der Naturwissenschaftler Jens Reich als besonnener Bürgerrechtler reden. Der Theologe Philipp Potter (Jamaika), Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, Ehrendoktor der Humboldt-Universität, sollte über das Antirassismusprogramm des Weltrates sprechen. Dominique Krösin stand als Vertreterin der Studentenschaft auf dem Programm. Ich ahnte nicht, daß die zur Immatrikulation zu haltende Rede meine letzte Amtshandlung sein würde.

Am 22. November, drei Tage vor dem Festakt, war in Die Zeit zu lesen: »Im Dezember finden an der Humboldt-Universität Wahlen zum Konzil und Senat statt. Der Senat wird einen Rektor wählen, der vermutlich nicht mehr Fink heißen wird.« Begründung: Die Gauck-Behörde habe längst bestätigt, daß Fink informeller Mitarbeiter der Stasi gewesen sei. Die Zeitung berief sich auf den Berliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU), der konkrete Informationen von der Gauck-Behörde habe. Die Welt und die FAZ gaben wortgleiche Informationen weiter.

Ich konnte mich nicht sofort gebührend gegen diesen Angriff wehren, weil ich erst einmal für den würdigen Ablauf der Immatrikulationsfeier sorgen wollte und weil für den 26. November die Flugkarte nach Israel schon auf meinem Schreibtisch lag. Trotz unserer beharrlichen Bemühungen hatte Senator Erhardt die Errichtung eines Lehrstuhls für »Jüdisches Denken« an unserer Universität – in Erinnerung an die exmittierten jüdischen Kollegen und Studenten – aus Finanzgründen abgelehnt, aber für den in diesem Zusammenhang gegründeten Samuel-Braun-Lehrstuhl für »Die Geschichte der Juden in Preußen« sollte jetzt in Tel Aviv die feierliche Inauguration stattfinden. Auch diese Festrede mußte noch vorbereitet werden.

Daß der Berliner Senator für Wissenschaft und Forschung sich bei der Immatrikulationsfeier von seiner Staatssekretärin vertreten ließ, war mir sehr recht. Die Sensationsmeldung der Presse hatte mich weniger erschüttert als die Tatsache, daß er vor der Veröffentlichung meine Stellungnahme gar nicht erst erfragt hatte. Meine eidesstattliche Erklärung, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben, hätte ich gern ihm gegenüber wiederholt.

An meiner Begrüßungsrede für die Studienanfänger brauchte ich nichts zu ändern, obwohl mich die Wahlprognose der drei Zeitungen beunruhigte. Den Studenten sagte ich: »Ich möchte Ihnen für Ihr Vertrauen danken, daß Sie eine Universität gewählt haben, die sich in einem komplizierten Prozeß ihrer Erneuerung befindet. Und weil dieser Prozeß noch nicht zwei Jahre währt, erleben die Professoren (leider sehr wenige Professorinnen) genau das Gleiche wie Sie, denn – obwohl ausgewiesene Könner im jeweiligen Fach – sind sie in der Sache der demokratischen Erneuerung Lernende wie Sie. Dieser auf Zukunft orientierte Erneuerungsprozeß hat zugleich die Vergangenheit zum Gegenstand. An dieser Vergangenheit sind Sie mit nur wenigen Lebensjahren beteiligt. Ich selbst bestehe beharrlich darauf, daß für uns Vergangenheit nicht nur ›40 Jahre DDR‹ heißt. Wir haben uns der Zeitgeschichte ab 1933 zu stellen, als auch mit den Stimmen von Studenten und Universitätslehrern in Deutschland die noch junge, ungeübte Demokratie abgewählt wurde – zugunsten nationalsozialistischer Herrschaft für ein ›starkes Deutschland‹, das sich nicht länger von Sozialdemokraten, Juden, Homosexuellen und Kommunisten ›zersetzen‹ lassen wollte. Auch unsere Universität hat tiefe Narben aus jener Zeit. Oder sind es vielleicht sogar noch Wunden? Ich bin sehr dankbar, daß Elie Wiesel unsere Bitte, an diesem Beginn Ihres Studiums beteiligt zu sein, angenommen hat. Ich habe bei ihm gelesen: ›Durch Erinnern helfen Sie Ihrem eigenen Volk, die Geister zu bezwingen, die auf seiner Geschichte lasten. Eine Gesellschaft, die mit ihren Toten (deutlicher: sechs Millionen ermordeten Juden) nicht im Reinen ist, wird ihre Lebenden dauernd verstören und traumatisieren. Dagegen hilft nur Erinnern!‹ Das war mir wie eine Deutung auch für Hoyerswerda! ... Ich wünschte mir, daß Sie, mit Überlebenden der Nazi-Zeit verbündet, unsere jüngste Vergangenheit nicht dadurch verschleiern, daß Sie nur wegen Ähnlichkeiten vierzig Jahre DDR mit Faschismus gleichsetzen. Damit verhöhnen wir die Opfer …«

Während der Feier in der Komischen Oper wurde mir folgendes Schreiben des Senators ausgehändigt: »Sehr geehrter Herr Prof. Fink, ich bitte Sie noch heute Abend zu einem dringenden, persönlichen Gespräch in meine Dienstzimmer. Sollte es Ihnen nicht möglich sein, um 19.30 Uhr hier zu erscheinen, so bitte ich unbedingt um ihren Telefonanruf, noch bevor Sie morgen nach Israel fliegen. Mit freundlichen Grüßen Ihr Manfred Erhardt«.

Laut Aktennotiz hatte der Senator erst an diesem 25. November um 14.50 Uhr die Mutmaßungen der Gauck-Behörde bekommen. Minuten später bestellte er mich per Brief ein. Ohne daß ich die Akten der Gauck-Behörde sehen durfte, teilte er mir mit, daß es sich erübrige, noch einmal als Rektor zu kandidieren, da mir ja nun die fristlose Entlassung bevorstehe. Nach Israel könne ich reisen, aber nicht mehr als Rektor.

Der Lehrstuhl für »Jüdisches Denken« blieb leer, und auch ich mußte den meinen alsbald räumen.

Fortsetzung folgt. In Heinrich Finks Artikelserie über die Humboldt-Universität in der Wendezeit erschienen bisher: »Wer denkt noch an die Studenten?« (Heft 2/11), »Die Abwicklung des Rudolf Bahro« (3/11), »Erwin Chargaffs Mahnungen« (4/11), »Von der Brauchbarkeit der Stasi-Akten« (6/11) und »Verbrannt, verbannt – für immer?« (7/11). Unser Autor wurde Anfang April als Bundesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschisten wiedergewählt.