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Titel819

Hirngespinste  (Ralph Hartmann)

In stockdunkler Nacht, abgeschirmt von jeglicher Öffentlichkeit, trafen sich zwei Männer: der US-Präsident und Andrés Manuel López Obrador, Staatsoberhaupt und Regierungschef Mexikos. Vorausgegangen war dem Geheimtreffen ein Telefongespräch zwischen dem America-first-Präsidenten und dem erst unlängst ins höchste mexikanische Staatsamt gelangten López Obrador. Letzterer machte dabei Andeutungen, dass seine Regierung unter bestimmten Umständen bereit sein könnte, den Bau der Mauer zwischen beiden Nachbarstaaten zu bezahlen. Trump, der noch vor seiner Wahl angekündigt hatte, dass die Grenzbefestigung vom südlichen Nachbarn bezahlt werden würde, und jetzt trotz Verkündung des Nationalen Notstandes die erforderlichen Milliardensummen nicht zusammenbekam, war höchst überrascht, verständlicherweise hocherfreut und lud den Gesprächspartner bereits zum nächsten Wochenende in sein Wochenenddomizil Mar-a-Lago in Florida ein.

 

Nun also fand das Treffen unter vier Augen statt. Der hohe mexikanische Gast wiederholte sein Angebot, allerdings unter einer kleinen Bedingung. Voraussetzung für die Finanzierung der Mauer sei die Annullierung des am 2. Februar 1848 unterzeichneten Vertrages von Guadalupe Hidalgo. Der Vertrag beendete den mexikanisch-amerikanischen Krieg, der 1846 begonnen hatte, weil die USA die Abtrennung eines großen Teiles des mexikanischen Staatsterritoriums forderten. Nach mehreren blutigen Schlachten drangen die US-Truppen weit nach Süden vor und besiegten die Mexikaner bei Monterrey (August 1846) und Buena Vista (Februar 1847). Mexiko musste kapitulieren. Nach dem »Friedensvertrag« akzeptierte es gegen die Zahlung von 15 Millionen Dollar (heute etwa 434 Million) und die Streichung mexikanischer Schulden bei den Nordamerikanern den Rio Grande als Grenze und trat damit ein 1,36 Millionen Quadratkilometer großes Gebiet ab, das ab nun die heutigen US-Bundesstaaten Arizona, Nevada, Kalifornien, New Mexiko, Utah sowie einen Teil Wyomings umfasst. Mexikos Territorium verringerte sich damit nahezu um die Hälfte. Nach dieser »kleinen Bedingung« verschlug es dem sonst so wortgewaltigen US-Präsidenten im ersten Moment die Sprache. Dann erklärte er, er liebe zwar Deals, aber für den Bau der Mauer 1,36 Millionen Quadratkilometer des Territoriums von God’s Own Country abzugeben, sei der unverschämteste Deal, der ihm jemals unterbreitet worden sei. Mit den Worten »America first« und »you, boy, go to hell« beendete er das Treffen und warf den Staatsgast hinaus. Noch vor Sonnenaufgang verließ López Obrador die Vereinigten Staaten.

 

An dieser Stelle muss ich das gestehen, was der Ossietzky-Leser längst erkannt hat: Das geschilderte Treffen entsprang meiner Phantasie, es war ein Hirngespinst!

 

Vor kurzem, das exakte Datum ist bisher nicht bekannt, fand im abhörsicheren, mit dunklem Holz vertäfelten Arbeitszimmer des russischen Präsidenten eine Beratung zwischen Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu statt. Gegenstand waren die Beziehungen zwischen der russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Beratungsteilnehmer zeigten sich genervt angesichts der russlandfeindlichen Politik Washingtons, des permanenten Vordringens der NATO an die Grenzen Russlands, der Kündigung des INF-Vertrages und der Fortdauer böswilliger Wirtschaftssanktionen. »Aber«, so fragte Putin, »was können wir tun? Unsere Antwort muss schmerzhaft, unkonventionell und überraschend sein.« Nach langer Diskussion unterbreitete Schoigu den Vorschlag, von den USA die Rückgabe Alaskas zu fordern. Argumente gebe es zur Genüge.

 

Der selbstherrliche Zar Alexander II. hatte 1867 seinen Botschafter in Washington, Eduard von Stoeckl, beauftragt, den USA den Kauf des zum russischen Staatsterritorium gehörenden Alaska anzubieten. Hauptmotiv war die Tatsache, dass die russische Staatskasse nach dem verlorenen Krimkrieg leer war. Washington zeigte sich angenehm überrascht, und am 30. März 1867 unterzeichneten der russische Botschafter und der US-Außenminister William H. Seward den Verkaufsvertrag. Russland erhielt für Alaska den Spottpreis von 7,2 Millionen Dollar (heute etwa 120 Millionen Dollar). Die USA hatten die finanzielle Notlage des Zarenreiches ausgenutzt und es nach allen Regeln der Kunst übers Ohr gehauen. Pro Quadratkilometer bezahlten sie sage und schreibe 4,74 Dollar. Das war kein ehrlicher Preis, sondern nach heutigen Maßstäben ein betrügerischer Schandpreis. Umso mehr, wenn man die strategische Bedeutung Alaskas, seine Reichtümer an wertvollen Rohstoffen, darunter an Gold und Erdöl, berücksichtigt. So kamen denn die drei Spitzenpolitiker im Kreml überein, den Schwindelvertrag nachträglich zu kündigen und die Rückgabe Alaskas an die Russische Föderation zu fordern. Als der russische Botschafter in Washington, Anatoli Antonow, im Auftrag seiner Regierung dem US-Außenminister Mike Pompeo die offizielle Forderung nach Rückgabe Alaskas vortrug, informierte dieser umgehend seinen Präsidenten, der Schnappatmung bekam und wutschnaubend ausrief: »Nie und nimmer wird das geschehen, jedenfalls nicht, solange ich Trump heiße. Noch immer gilt: America first!« Doch Moskau hält an seiner Forderung fest, die Auseinandersetzung um Alaska ist noch lange nicht beendet.

 

Auch hier gilt: Das Geschehen ist ein Produkt meiner Phantasie. Es ist ein Hirngespinst.

 

Aber etwa zur gleichen Zeit geschah etwas ebenso Seltsames. In einigen Sektoren der neuen, über eine Milliarde Euro teuren Zentrale der North Atlantic Treaty Organization (NATO) im Nordosten der belgischen Hauptstadt, im Brüsseler Vorort Evere, herrschte kürzlich ein eifriges Treiben. Ein bedeutender Jahrestag stand bevor und der Friedenspakt musste ihn mit einer gemeinsamen Erklärung aller 29 Mitgliedsstaaten würdigen. Nachdem der Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Entwurf abgesegnet hatte, musste der Text in einem Umlaufverfahren von allen NATO-Staaten gebilligt werden. Dank gemeinsamer Anstrengungen gelang das, und Mitte März 2019 wurde er veröffentlicht. Die Erklärung galt einem bedeutsamen Ereignis, bei dem kein einziger Schuss fiel: dem 5. Jahrestag der Wiedereingliederung der Krim in die russische Föderation. An der Abfassung des Textes waren viele Hirne beteiligt, herausgekommen ist ein hirnrissiges Papier. In der »Erklärung« fordert die NATO Russland auf, die Krim an die Ukraine zurückzugeben und die Aufrüstung in der Region am Schwarzen Meer zu stoppen. Festgestellt wird, dass Moskau erst bei einem politischen Kurswechsel auf eine Normalisierung der Beziehungen hoffen könne. Die NATO werde die »illegale und illegitime Annexion« der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel nicht akzeptieren. Solange Russland nicht wieder das Völkerrecht einhalte, werde es keine Rückkehr zum »business as usual« geben. Gut gebrüllt, Löwe!

 

Nehmen denn die NATO und ihre Mitgliedsstaaten tatsächlich an, dass die übergroße Mehrheit der Krimbewohner ihre nach dem rechten, von der NATO massiv unterstützten Staatsstreich in Kiew getroffene Entscheidung zur Sezession und zur Rückkehr in das föderale russische Reich rückgängig macht? Erwartet die NATO tatsächlich ernsthaft, dass Russland, dem die Halbinsel von 1783 bis zum administrativen Willkürakt Chruschtschows im Jahre 1954 angehörte, die Krim an das marode, russlandfeindliche Regime in Kiew zurückgibt? Hofft die NATO tatsächlich, dass Moskau es zulässt, dass das ukrainische Militär, wie es seinerzeit der Ex-Verteidigungsminister Waleri Geletej so realitätsnah feststellte, die Siegesparade in Sewastopol abhalten wird? Glauben die NATO-Granden, Moskau lasse es zu, dass sein strategisch so bedeutsamer, im blutigem Kampf gegen die Hitlerwehrmacht wieder befreiter Marine-Stützpunkt in Sewastopol letzten Endes in die Fänge der NATO gerät, dort deren Flagge gehisst wird und die Gefahren für Russlands Sicherheit enorm wachsen? Die friedliebende NATO kann die Rückgabe der Krim an die Ukraine dutzende Male verlangen, geschehen wird das niemals. Eine Politik, die unumstößliche Realitäten nicht anerkennt, ist nicht nur dreist, sie ist abenteuerlich und will die gegenwärtigen gefährlichen Spannungen bis in alle Ewigkeit aufrechterhalten. Die NATO-Forderung nach Wiedereinverleibung der Krim in die Ukraine ist so wenig realistisch wie ein Verlangen Mexikos nach Rückgabe der 1,36 Millionen Quadratkilometer oder der Wunsch Moskaus nach Rückkauf Alaskas. Die zwei letzteren Ideen waren, ich gestehe es noch einmal, meine Hirngespinste. Die stereotype Forderung der NATO nach Rückgabe der Krim ist auch ein Hirngespinst, ein tatsächliches, zwar ein dummes, aber leider auch ein höchst gefährliches.