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Titel1010

Fieses aus der Milchwirtschaft  (Volker Bräutigam)

Saisonbeginn in unserer holsteinischen Kleingartenanlage. Die Laubenpieper nebenan brutzeln Würstchen, Steaks und Schweinenacken. Auch im Grill vor meinem Büdchen glüht die Holzkohle. Gerade lege ich auf – bei uns sind es Gemüsespieße und Makrelen –, als meine im Allgäu lebende Schwester eintrudelt und schon von der Pforte her »Für mich kein Fleisch!« ruft, noch ehe wir uns recht begrüßen können.

Die vegetarischen Anwandlungen meiner Schwester bringen das Gespräch auf die Tierquälerei in der Landwirtschaft. Als sie schließlich behauptet, den Rindern die Hörner abzusägen, sei ebenso üblich wie schädlich für Milch- und Fleischqualität, langt es mir fürs erste. Überhaupt: Kühe ohne Hörner? Sonderbar, mir fällt das erst jetzt auf. Wir gehen zum Nachbarn. Der arbeitet in einer Besamungsstation. Er schätzt spontan, mindestens 80 Prozent aller Rinder würden enthornt, und holt sein Notebook heraus.

Laut Veterinärärztlichem Dienst und Statistikamt Schleswig-Holstein gibt es in unserem Bundesland (Stand: November 2009, Tendenz: rückläufig) noch 9496 Rinderhaltungen mit 1,17 Millionen Rindern. 73 Prozent des Bestands sind Milchvieh, 19 Prozent entfallen auf Doppelnutzungsrassen, acht Prozent auf Fleischnutzungsrassen. Schleswig-Holsteins »Schwarzbunte« und »Rotbunte« haben von Natur aus Hörner; daneben werden nur 15.000 Tiere einer hornlos gezüchteten Fleischnutzungsrasse gehalten. Ganzjährige Freilandhaltung ist unüblich. Der Biobauer, der seinen Rindern ein halbwegs naturnahes Leben und die Hörner läßt, ist die absolute Ausnahme.

Der normale Bauer leistet sich nicht einmal einen Stall, in dem die Tiere in Boxen oder in sicherem Abstand voneinander angekettet an der Futterrinne stehen. Er unterhält lieber einen »modernen« Laufstall mit günstigerem Kosten-Nutzen-Verhältnis: mehr Kuh pro Quadratmeter, billigere und einfachere Einrichtung. Im Laufstall können sich die Rinder »frei« bewegen, auf sehr engem Raum. Als Herdentiere kämpfen sie um eine natürliche Rangordnung. Je enger der Lebensraum, desto heftiger die Rangelei. Um die Verletzungsgefahr für Tier und Bauer zu begrenzen, nimmt man dem Rind die Hörner. Zweckmäßig. Und so ist es überall in Deutschland (Rinderbestand: 12,9 Millionen) üblich.

Um beim Beispiel Schleswig-Holstein zu bleiben: Von den gegenwärtig in diesem Bundesland gehaltenen Rindern wurden etwa eine Million – meist qualvoll – enthornt. Nicht aus sadistischem Vergnügen, sondern weil auch unsere Landwirtschaft den Gesetzen des Kapitalismus unterliegt: Profit kommt vor Tierschutz.

»Nichts im Universum ist ohne Wert, denn die Natur tut nichts vergeblich« (Aristoteles). Das Kalb entwickelt bereits wenige Tage nach der Geburt Hornzapfen, stark durchblutete, von Nerven durchzogene Stummel am seitlichen Rand der Stirnhöhle. Das Unterhautgewebe fältelt und verhärtet sich allmählich, der Zapfen überzieht sich mit Horn. Sein Inneres bleibt mit der Stirnhöhle verbunden, das Ganze ein körperwarmes, empfindsames Organ, möglicherweise von Belang für hormonale und für Stoffwechselprozesse, sicherlich aber für den Gleichgewichtssinn. Das Horn dient zur Orientierung (bei einseitigem Hornbruch hält ein Rind den Kopf schief und geht unsicher) und als Waffe.

Wenn man die Tiere schon verstümmelt, warum nicht wenigstens schmerzfrei? Nach dem Tierschutzgesetz ist nur »grundsätzlich« kein Eingriff ohne Betäubung erlaubt und Anästhesieren dem Tierarzt vorbehalten. Die Bauern dürfen bis sechs Wochen alte Kälber selbst enthornen – ohne Betäubung. Das Gesetz schützt Jungtiere unzureichend (Ferkel werden meist ohne Betäubung kastriert), Überwachung findet nur sporadisch statt, zu Bußgeldverfahren kommt es fast nie.

Jährlich werden in meinem Bundesland 350.000 Kälber geboren. Es gibt aber lediglich 67 Tierärzte. Großenteils betreiben sie städtische Kleintierpraxen und sehen selten einen dörflichen Viehstall von innen. Das knappe Dutzend beamteter Veterinäre müßte, falls es strikt nach Tierschutzbelangen ginge, neben der Lebensmittelüberwachung, dem Seuchenschutz, der Kontrolle der Schlachthöfe und vielen anderen Aufgaben auch noch überwachen, ob täglich tausend Kälber schmerzfrei und sauber enthornt werden. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Den Kälbern wird der Hornzapfen meist weggebrannt. Die Wunden werden »kauterisiert«: offenes Gewebe und Gefäße zur Blutstillung verschmort. Die Verwendung von Ätzstiften ist verboten, aber längst nicht unterbunden. Älteren Rindern schneidet man die Hörner mit Fuchsschwanz oder Sägedraht ab. Dazu werden die Tiere vom Veterinär sediert und die Nervenstränge in den Hörnern anästhesiert – falls der Bauer nicht die Arztkosten scheut. Im Allgäu, berichtet meine Schwester, hätten sich einige Landwirte und Verbraucher gegen das qualvolle Enthornen zusammengetan, zumeist aus Sorge vor mindernden Einflüssen auf Milch- und Fleischqualität. Ausnahmen.

In Kenntnisstand und Denkweise der bäuerlichen Mehrheit bietet das Internet (Beispiel: www.landlive.de/boards/thread/9847/page/1/) drastische Einblicke: »Hallo, ich hätte mal eine Frage zur Kälberenthornung. Wer hat Erfahrung mit ätzenden Säuren, ist das überhaupt erlaubt? Arbeitet Ihr mit Gasbrennern oder mit Elektrokolben? Betäubt Ihr die Kälber und mit welchem Mittel.« Antwort: »Ich arbeite seit 24 Jahren mit einem Elektrokolben. Schmerzmittel setz ich nicht ein. Ich wag mal den Vergleich mit Zahnziehen ohne Betäubung.« – »Wenn ich verkrüppelte Hörner oder Hornplatten sehe und nachfrage, wie enthornt wird, höre ich meist Ätzkalistift. Sollen Bauern ja schon Löcher in die Schädeldecke gebrannt haben ...« – »Wir enthornen mit Brennstab ohne Betäubung. Ist das Horn schon durch die Haut (Hornkruste sichtbar), ist ein Brandring meist zu spät, und dann wird der Hornansatz komplett rausgepult und danach nochmal den Brennstab ne kurze Zeit reingehalten.« – »Ein Bekannter hat einen Heißluftföhn, den er 20 sec. draufhält, das soll auch gut funktionieren.« – Die einzige Ruferin in dieser Wüste: »Wir enthornen unsere Tiere nicht, da Hörner zur Kuh gehören ... basta.«

Meine Schwester, blaß geworden: »Es riecht verbrannt!« Ach ja, ich habe meinen Grill vergessen. Der Appetit ist uns eh vergangen.