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Titel1011

Unser fabelhafter Präsident  (Ralph Hartmann)

Ungerecht, höchst ungerecht geht es zu: Unser Bundespräsident Christian Wulff taucht im ZDF-»Politbarometer« in der Liste der »beliebtesten deutschen Politiker« überhaupt nicht auf. Dabei müßte er, wenn es nach seinem Amt und seinem eifrigen Bemühen ginge, weit vor dem »Agenda 2010«-Architekten und SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier und selbstverständlich vor dem immer noch mit einem Listenplatz geehrten schneidigen Ex-Kriegsminister Karl Theodor zu Guttenberg liegen. Schließlich ist es doch kein Geheimnis, daß der gegenwärtige Chef im Schloß Bellevue stets freundlich und bescheiden auftritt, zugleich aber von beeindruckender Redseligkeit ist. Seit seinem Amtsantritt vor knapp zehn Monaten hat er allein nach vorbereiteten Manuskripten weit mehr als 100 längere Reden gehalten, vor Gott und aller Welt, unter anderem bei Ordensverleihungen an Marianne Birthler und Roland Koch sowie an den Fußball-Bundestrainer Joachim Löw, beim Konzert von Udo Lindenberg »Hinterm Horizont geht’s weiter«, beim »91. Ostasiatischen Liebesmahl« der deutschen Asienwirtschaft und auf seiner jüngst zu Ende gegangenen historischen Lateinamerika-Reise. Er hat so viel Kluges, ja Weises gesagt, daß eine Wiedergabe das ganze Heft füllen könnte; aber da das weder dem Ossietzky-Leser und schon gar nicht dem verantwortlichen Redakteur zuzumuten ist, können hier nur wenige Beispiele die präsidiale Geisteskraft illustrieren.

Wulff ist vor allem ein exzellenter Analytiker, der zu jeder Zeit jedwede Lage sachlich und realistisch beurteilen kann. Diese unter den herrschenden Politikern seltene Gabe bewies er beim Festakt »20 Jahre Sachsen-Anhalt« in Magdeburg, wo er dem Land »zu einer 20-jährigen Erfolgsgeschichte gratulieren« und treffend bemerken konnte, daß »seit Gründung des Landes ... außerordentlich vieles geleistet und erreicht (wurde) ... Viele Betriebe sind neu entstanden, viele alte sind aufgeblüht«. Angesichts dieser »atemberaubenden Entwicklung des Bundeslandes« zog er den dann geradezu logisch wirkenden Schluß: »Sachsen-Anhalt ist auf einem sehr guten Weg.« Nur einige notorische Querulanten bemängelten, daß der Präsident auf diesem Weg einige Steine und so auch folgende Tatsachen übersah: Sachsen-Anhalt liegt hinsichtlich seiner Wirtschaftskraft hinter allen deutschen Ländern zurück, dafür nimmt es eine Spitzenposition bei Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und Bevölkerungsschwund ein. Seit 1990 ist die Einwohnerzahl von 2,9 auf 2,3 Millionen zurückgegangen, und nach Prognose-Rechnungen des Statistischen Landesamtes wird sie bis 2025 um weitere 20 Prozent sinken. Aber hätte denn das Staatsoberhaupt bei diesem festlichen Anlaß auf solche Lappalien eingehen sollen?

Wenn es jedoch um seine eigenen Gefühle geht, ist Wulff ein offenherziger, ein mutiger Mann. Er scheut sich nicht zuzugeben, daß er zuweilen Angst, ja sogar Schrecken empfindet, vor allem dann, wenn er an den untergegangenen deutschen Unrechtsstaat und dessen Verklärung denkt. Er gestand es ein, als er gemeinsam mit Marianne Birthler eine weitere Dauerausstellung der Stasi-Unterlagen-Behörde eröffnete: »Es ist für mich jedenfalls erschreckend, wie verklärend viele heute rückblickend auf die DDR schauen.« Doch er klagt nicht nur, er weiß auch Rat, und so fordert er, weitere Orte zur Aufklärung und Mahnung zu schaffen und auszubauen.

Kein Wunder also, daß er denen in großer Hochachtung und Dankbarkeit verbunden ist, die sich um diese so notwendige Aufklärung schon in den zurückliegenden 20 Jahren verdient gemacht haben. Dazu zählt sein unterlegener Konkurrent für das höchste Staatsamt, Joachim Gauck. Als diesem die »Goldene Victoria« für sein Lebenswerk verliehen wurde, bescheinigte Wulff dem verdienstvollen Aufklärer: »Wo immer es darauf ankam, haben Sie Kluges entschieden und Gutes getan. Ohne Sie gäbe es diese systematische Aufarbeitung der SED-Stasi-Diktatur nicht.« Und da es um die Würdigung des Lebenswerkes eines Freiheitshelden der Spitzenklasse ging, hob er hervor, »daß der Einsatz für die Freiheit der eindrucksvolle rote Faden in einem Leben sein kann, der sich jedenfalls durch Ihr Leben zieht ... Sie sind geboren und aufgewachsen in einem System des Unrechts und der Diktatur. Sie haben früh und ganz persönlich in der eigenen Familie erlebt, wie staatliche Willkür sein kann ... Schon früh haben Sie sich die innere Freiheit genommen, zu diesem System ›nein‹ zu sagen.« Leider hat das zu DDR-Zeiten niemand so recht bemerkt. Aber woher sollte Wulff auch wissen, daß die DDR-Staatssicherheit ausgerechnet 1988 den fünf Jahre zuvor angelegten Operativen Vorgang zur Beobachtung Gaucks mit dem Decknamen »Larve« mit der Begründung schloß, daß von diesem keine »Aktivitäten« ausgehen, und gleichzeitig prüfte, ihn als »Informellen Mitarbeiter« zu gewinnen? Die Schuld an dieser Wissenslücke tragen allein seine Redenschreiber, die es versäumten, das Staatsoberhaupt davon zu unterrichten, daß der »Goldene Victoria«-Träger wiederholt Kontaktgespräche mit Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit hatte, daß dieses ihm außergewöhnliche Privilegien einräumte und ihn für seinen Beitrag zum störungsfreien Ablauf des DDR-Kirchentages 1988 ausdrücklich belobigte?

Als braver und liebenswürdiger erster Bürger der Bundesrepublik pflegt Wulff seine Reden mit dem Ausdruck der Freude darüber einzuleiten, an dem jeweiligen Event teilnehmen zu dürfen. So auch beim »Festlichen Abend des Bundesverbandes der Deutschen Industrie« im Berliner Martin-Gropius-Bau. Zum Dank war er hier ebenfalls des Lobes voll für das »engagierte Eintreten« der Unternehmer »für das Wohlergehen Ihrer Unternehmen und Ihrer Mitarbeiter«, »das vorbildliche Miteinander der Sozialpartner während der Wirtschaftskrise«, »die funktionierende Sozialpartnerschaft« und dafür, daß »sich die Gewerkschaften sehr verantwortlich verhalten« haben. Überaus geschickt verband er das Lob mit Kritik und forderte, »daß wir uns auf die bewährten Grundsätze des ehrbaren Kaufmannes zurückbesinnen sollten. Die Werte eines redlichen und weitblickenden Unternehmers, der entschlossen und nachhaltig handelt, der genügsam ist und dem es nicht an Demut und Weitsichtigkeit mangelt ... Wir müssen Wege finden, wie wir unsere Gesellschaft vielfältig und offen gestalten und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt fördern – zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten.« Die »ehrbaren Kaufleute« waren begeistert, dankten dem hochrangigen Redner mit reichem Beifall und gelobten, auch fürderhin das Banner des »sozialen Zusammenhalts« zwischen Arm und Reich hochzuhalten.

Das konsequente Eintreten für die »Tradition des ehrbaren Kaufmanns« hat Wulff viele aufrichtige Freunde gebracht, darunter bekanntlich auch den Gründer des hannoverschen Allgemeinen Wirtschaftsdienstes (AWD), Carsten Maschmeyer, der Tausende Kleinanleger in den finanziellen Ruin getrieben hat. Doch diese »freundschaftlichen persönlichen Verbindungen« sollten nicht auf die Goldwaage gelegt werden, gehören doch zum Freundeskreis des Multimillionärs auch andere hochangesehene Ehrenmänner, darunter Gerhard Schröder, Walter Riester, Siegmar Gabriel, Bert Rürup. Und außerdem: Letztlich sind wir doch alle Wulffs Freunde, denn wir sind stolz, einen solch klugen Märchenerzähler zum Präsidenten zu haben.