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Titel1219

Tiefer Fall führt oft zu höherem Glück  (Johann-Günther König)

Viele Passagen aus Shakespeares Werken sind geflügelte Worte – dazu gehört auch das über den tiefen Fall aus »Cymbeline«. Einen tiefen Fall erlebt gerade das Vereinigte Königreich, in dessen einst so mächtigem England der Dramatiker, Lyriker und Schauspieler William Shakespeare Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts die bedeutendsten Bühnenstücke der Weltliteratur schrieb. Ob der tiefe Fall allerdings – wie so oft – zu einem »höherem Glück« führt, ist noch längst nicht ausgemacht. Selbst dann nicht, wenn das Anfang Juni von Donald Trump den Briten in Aussicht gestellte lukrative Handelsabkommen mit den USA in absehbarer Zeit zustande kommen sollte.

 

Der Mai war in politischer Hinsicht so etwas wie ein Wonnemonat für zwei britische Parteien, die in den vergangenen Jahren so gut wie keine Rolle spielten, die Liberal Democrats (LibDems) und die Green Party, sowie für die neugegründete Brexit Party von Nigel Farage. Das zeigte sich schon bei der Kommunalwahl am 2. Mai (an der die Brexit Party nicht teilnahm), als die Wählerinnen und Wähler der Regierungs- und führenden Oppositionspartei die Quittung für ihren verfahrenen Brexit-Kurs verpassten. Die Conservative Party verlor weit mehr als tausend Sitze und zugleich die Kontrolle über zahlreiche Bezirksverwaltungen, der Labour Party erging es nicht wesentlich besser. Die LibDems und die Greens sowie erstmals auch zahlreiche unabhängige Kandidaten profitierten von der Schwäche der beiden Volksparteien enorm und erhielten mehr Stimmen und Einfluss als je zuvor. Die neue Brexit Party wiederum zeigte bei der im Vereinigten Königreich mangels Brexit-Vollzugs notwendigen Wahl zum EU-Parlament, was eine unionsfeindliche Harke ist: Sie errang auf Anhieb 29 der den Briten zustehenden 73 Sitze. Erneut büßten die im Brexit-Chaos verfangenen alten Volksparteien massiv an Einfluss ein – Labour erhielt lediglich zehn und die Tories sogar nur vier Sitze – für sie war es das schlechteste Wahlergebnis seit 1832. Die von den EU-Befürwortern bevorzugten LibDems erhielten immerhin 16 und die Greens sieben Sitze. Übrigens behält das EU-Parlament wegen der einrückenden britischen Abgeordneten solange die bisherige Größe von 751 Mitgliedern, bis der Brexit vollzogen ist. Danach wird die Zahl der Abgeordneten auf 705 begrenzt, wobei 27 der ehemaligen britischen Sitze dann an nicht ausreichend repräsentierte Staaten wie Frankreich, Italien und Spanien sowie an ein mögliches Neumitglied verteilt werden sollen.

 

Für die ohnehin nur mehr am letzten Tropf hängende britische Premierministerin Theresa May verlief der Mai ganz und gar nicht wonnig – nach dem Kommunalwahldesaster ging es ihr bereits schlecht, nach dem Mitte des Monats erfolgten Scheitern der Gespräche mit Oppositions- und Labour-Chef Jeremy Corbyn über einen Kompromiss im Brexit-Streit noch schlechter, nach der postwendenden Ablehnung ihres Zehn-Punkte-Plans, mit dem sie am 21. Mai das Parlament doch noch für ihren zuvor dreimal abgewiesenen Brexit-Deal gewinnen wollte, absolut schlecht. Als der Guardian am 23. Mai titelte: »Barricaded inside No 10, May clings on to power« (Verbarrikadiert in Downing Street Nr. 10 klammert sich May an die Macht), schlug gleichsam ihr letztes Stündlein an den Schalthebeln der Macht. Am 24. Mai verkündete sie ihren Rücktritt als Tory-Parteivorsitzende mit Wirkung zum 7. Juni und als Premierministerin sowie Vorsitzende des Commonwealth of Nations, sobald eine Nachfolge für sie gewählt ist. Wenn nicht alles täuscht, wird Königin Elisabeth einen neuen Premierminister im Laufe der vierten Juliwoche ernennen. Dazu später mehr.

 

Theresa May hat – wie zuvor ihr Vorgänger David Cameron – dem Vereinigten Königreich und der Bevölkerung durch ihre politische Irrfahrt einen unermesslich großen Schaden zugefügt. Bezeichnend auch, dass während ihrer Regierungszeit mehr Minister und Staatssekretäre ihre Ämter niederlegten oder verloren als unter den Premiers der jüngeren Vergangenheit. Als letzte verließ mit der Brexit-Befürworterin Andrea Leadsom das 36. Mitglied die Regierung und versetzte Theresa May damit quasi einen zusätzlichen Tritt aus dem Amt. (Zur Erinnerung: Leadsom hatte 2016 für den Vorsitz der Konservativen Partei und das Amt der Premierministerin kandidiert und war kurz vor dem Ziel durch ein Interview gescheitert, in dem sie die Konkurrentin May wegen ihrer Kinderlosigkeit ins Zwielicht zu rücken versucht hatte.)

 

Theresa Mays bereits im Juli 2016 bei der Inauguration gezündete Phrase »Brexit bedeutet Brexit« hat sich als teuflisch hohl erwiesen, ihr nun knapp drei Jahre später dem Volk mitgeteilter Abschiedsspruch fast schon als Segen: »Es ist und wird immer eine Angelegenheit von tiefem Bedauern für mich sein, dass es mir nicht gelungen ist, den Brexit zu vollziehen.« Merkwürdigerweise äußerte die Pfarrerstochter kein Bedauern über das skandalöse Verfehlen all der großspurigen sozialen Versprechungen, die sie bei ihrer Antrittsrede im Juli 2016 gegeben hatte. Nicht die Privilegierten, sondern die gesellschaftlich Benachteiligten würden von ihrer »Regierung für die ganze Nation« profitieren, hatte sie versprochen und betont: »Wir müssen die schreiende Ungerechtigkeit bekämpfen, dass die bei uns in Armut Geborenen im Durchschnitt neun Jahre früher als andere sterben; dass Schwarze vor Gericht härter als Weiße behandelt werden; dass weiße Söhne der Arbeiterklasse seltener als alle anderen eine Universität besuchen; dass Kinder nach dem Besuch von öffentlichen Schulen deutlich seltener in Top-Jobs aufsteigen als Privatschüler; dass Frauen weniger verdienen als Männer; dass für psychisch Kranke nicht genug Kapazitäten bereitstehen« und so weiter. (eigene Übersetzung)

 

Mays sozialpolitische Regierungsbilanz ist laut Forschungsergebnissen und Studien diverser Institutionen und Organisationen verheerend: Nichts ist besser als zuvor. Was Wunder, dass bei der Kommunalwahl kräftig Denkzettel verteilt wurden. In vielen Dörfern und Kleinstädten erleben die Menschen seit Jahren finanzielle Streichorgien, die im Bildungs-, Ausbildungs-, Gesundheits- und Pflegesystem sowie in vielen Kultur- und Sporteinrichtungen zu erheblichen Verschlechterungen geführt haben. Von geschlossenen Bibliotheken und Sportplätzen ganz zu schweigen. Und da nun der von den Tories ganz und von Labour irgendwie halb versprochene Heilsbringer, eben der Brexit, der über Nacht alles zum Besseren wandeln sollte, bis heute nicht zustande gekommen ist, sind die hohen Stimmenverluste der beiden schwindsüchtigen Volksparteien durchaus nachvollziehbar.

 

Der Armutsforscher und Nobelpreisträger Sir Angus Deaton weist bereits vorsorglich darauf hin, dass Großbritannien in die Gefahr einer extremen Ungleichheit bei Entlohnung, Wohlstand und Gesundheit gerate, und fragt pointiert: »Funktioniert der demokratische Kapitalismus wirklich, wenn er das lediglich für einen Teil der Bevölkerung tut?« (Guardian 14.5.2019; eigene Übers.) Jedenfalls hat die Kombination von Niedriglöhnen, unsichereren Arbeitszeiten, steigenden Lebenshaltungs- und Wohnkosten sowie heftig gekürzten staatlichen Sozialleistungen die Zahl der »arbeitenden Armen« auf den höchsten Stand seit 20 Jahren katapultiert – mehr als vier Millionen Briten leben trotz eines Jobs und trotz der offiziell geringen Arbeitslosenquote in schreiender Armut. Der gerade publizierte Report von Human Rights Watch »Nothing Left in the Cupboards: Austerity, Welfare Cuts, and the Right to Food in the UK« wirft der britischen Regierung vor, immer mehr Menschen im Lande durch ihre grausame und unsoziale Politik nicht vor Hunger zu bewahren und zudem viele Kinder in die Armut zu stürzen. Das Vereinigte Königreich sei die fünftgrößte Ökonomie der Welt, unterstreicht Kartik Raj, der Verfasser der Studie, und habe umgehend dafür zu sorgen, dass niemand hungern muss. (vgl. https://www.hrw.org)

 

In den kommenden Wochen wird sich erst einmal alles um die Nachfolge von Theresa May drehen. Zur Auswahl stehen die Kandidatinnen und Kandidaten Boris Johnson, Michael Gove, Dominic Raab, Andrea Leadsom, Jeremy Hunt, Sajid Javid, Matt Hancock, Mark Harper, Rory Stewart, Esther McVey und Sam Gyimah. Zuständig für die Wahl des nächsten Partei- und zugleich Regierungschefs ist das 1922-Komitee der Conservative Party. Es wird unter Einbeziehung der Voten von spezifischen Gruppen aus der Tory-Parlamentsfraktion in einem mehrstufigen Ausscheidungsverfahren innerhalb von 14 Tagen die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber auf zwei reduzieren. Wenn um den 20. Juni dann diese beiden konservativen Politiker feststehen – eine Frau wird es wohl nicht schaffen – folgt die Befragung der circa 160.000 Parteimitglieder. Wer wird der Parteiwahlsieger in der vierten Juliwoche? Der weltgefährliche Donald Trump hofft auf Boris Johnson, hätte aber wohl auch nichts gegen Michael Gove – schließlich fordert er von den Briten einen »Brexit ohne Deal«. Wie dem auch sei, es ist unter den gegebenen Verhältnissen schlicht makaber, dass nicht die 46 Millionen britischen Wählerinnen und Wähler den nächsten Premier wählen, sondern nur die vergleichsweise kleine Zahl von Mitgliedern einer Partei, deren 2016 zurückgetretener Vorsitzender David Cameron die Gesellschaft des Königreichs zunächst in eine soziale und dann mit seinem Referendum in eine politische Spaltung getrieben hatte, die seine Nachfolgerin Theresa May dann unfassbar massiv vertiefte.

 

Eigentlich wollte und sollte das Vereinigte Königreich am 29. März aus der EU austreten. Da das ausgehandelte Austrittsabkommen für einen geregelten Brexit im britischen Unterhaus immer wieder scheiterte, verschoben die EU-Staats- und Regierungschefs das Brexit-Datum erst einmal auf spätestens den 31. Oktober. Da die Wahlen im Mai an der Zusammensetzung des Unterhauses nichts geändert haben, wird der aus dem Kandidatenrennen hervorgehende nächste britische Regierungschef wohl kein Retter werden können. Die verbliebene EU27 schließt Nachverhandlungen des von den britischen Parlamentariern nach wie vor mehrheitlich abgelehnten Abkommens aus, und einem von der kommenden Regierung womöglich als »managed no deal« verbrämten Versuch eines harten Ausstiegs wird sich das Unterhaus zweifellos auch entgegenstemmen. Steigen die Chancen, dass der Brexit durch das bis zum 31. Oktober noch mögliche Zurückziehen des Austrittgesuchs als verblendete Ideologie auf dem Geschichtsmüllhaufen landet? Oder kommt es wenigstens zu der von den Remainern gewünschten zweiten Volksbefragung? Von der zurzeit durch Antisemitismus-Vorfälle und vor allem die Uneinigkeit über den Brexit überraschend stark geschwächten Labour Party und ihrem ambivalent wirkenden Führer Jeremy Corbyn sind wohl keine »Heldentaten« zu erwarten. Und die in den beiden Wahlen jüngst reüssierenden LibDems und Greens sind in der Opposition des Unterhauses (auch aufgrund des Mehrheitswahlrechts) bestenfalls Fliegengewichte – die Liberalen haben lediglich elf, die Grünen nur einen einzigen Sitz (Labour hingegen 246). Die von der nordirischen DUP als Regierungspartei tolerierten Tories mit ihren 313 Sitzen werden im Übrigen schon aufgrund der heftigen Wahlniederlagen im Mai keine Neuwahlen zulassen – immerhin gibt es bis zur nächsten obligatorischen Unterhauswahl 2022/23 noch viel der »Machterholung« dienliche Zeit. Hinzu kommt: Ausweislich der Wahlen und Umfragen scheint nach wie vor gut oder fast die Hälfte der wahlberechtigten Briten für den Brexit zu sein.