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Soso, der Kommunist  (Eckart Spoo)

Johannes Rau, von 1999 bis 2004 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, empfing im Schloss Bellevue die Initiatoren des »Grundrechte-Reports«, des alljährlich von der Humanistischen Union und sieben weiteren Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen alternativen Verfassungsschutzberichts. Ich war verhindert. Rau ließ sich das Buch feierlich überreichen und stellte sogleich fest: »Soso, der Kommunist Spoo ist auch beteiligt.« Als ich beim nächsten Treffen der Herausgeber und Redakteure davon erfuhr, fragte ich: »Dann werde ich den Bundespräsidenten wohl wegen Verleumdung anzeigen müssen, oder?« Aber niemandem in der Runde war nach Streit mit »Bruder Johannes« zumute, der sich mit dem Motto »Versöhnen statt spalten« im ganzen Lande beliebt gemacht hatte.

 

Mir ging durch den Sinn, dass es darauf ankommt, wer mich Kommunist nennt: Angela Davis zum Beispiel oder Pete Seeger, da würde ich nicht erschrecken. Jedoch nicht von diesem Mann, der als nordrhein-westfälischer Wissenschaftsminister beispielsweise dem Sozialwissenschaftler Thomas Neumann eine Professur verwehrt hatte, weil in dessen Veröffentlichungen die Bundesrepublik als »imperialistischer Staat« bezeichnet worden war. Die Universität Münster hatte einstimmig beschlossen, Neumann zu berufen, Rau ließ das nicht zu. Theorieverbot. Ausgrenzung. Existenzvernichtung. Es gab in Deutschland Zeiten und es gibt sie in faschistisch regierten Staaten noch heute, wo die bloße Verdächtigung als »Kommunist« schnell zum Todesurteil werden kann. Seit langem begleiten mich Erfahrungssätze wie »Ein kluger Satz und schon bis Du Kommunist« oder »Kommunisten sind Tote auf Urlaub«.

 

Ein dummer Satz im Ablehnungsbescheid an Neumann lautete: »… wer die gegenwärtige Gesellschaftsordnung und die unseren Staat tragenden politischen Kräfte in der geschehenen Weise abqualifiziert, distanziert sich damit ebenso von einer Verfassung, die solche Ordnungen und politischen Machtverhältnisse als legal zulässt, oder er hält die gegenwärtige Gesellschaftsordnung und die zur Zeit bestehenden Machtverhältnisse nicht für verfassungskonform. Beide Alternativen führen zu dem Schluss, dass Sie nicht die Gewähr bieten können, auf dem Boden der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes zu stehen.«

 

Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war hier Antikommunismus Staatsdoktrin. Wenn mich das Staatsoberhaupt Kommunist nannte, war das also nicht harmlos. Wie kam Rau überhaupt dazu? Was hatten die Verfassungsschutzämter zusammengetragen, um ihn vor mir zu warnen? Sicher hatte ihnen mein Engagement gegen die verfassungswidrigen Berufsverbote missfallen? Oder war da noch etwas?

 

Widersprüche

Was hatte mich politisiert? Es waren die Widersprüche, in denen ich aufwuchs. Verwandte und Bekannte logen über ihre Vergangenheit oder schwiegen vielsagend und behielten ihre Besitztümer, Firmen, Führungspositionen, Privilegien. Manche waren plötzlich fromme Christen geworden, und die Kirchen versuchten, sich so darzustellen, als hätten sie den Nazis tapfer widerstanden. Die Heuchler stellten einander sogenannte Persilscheine aus: Sie seien gutgläubig mitmarschiert und hätten sich niemals etwas Böses zuschulden kommen lassen.

 

Von ihnen unterschied sich meine ältere Freundin Henni mit ihren vielseitigen künstlerischen Neigungen. Meine Mutter versuchte, mir diesen Umgang zu verbieten – vergeblich. Henni hatte unter der Nazi-Herrschaft viele gute Schriften aus Weimarer Zeiten im Garten vergraben, zum Beispiel Feuilletons von Alfred Polgar, dem feinsinnigen Weltbühne-Autor. Diese Literatur war ganz anders als die nationalistischen und militaristischen Romane im Bücherschrank zu Hause.

 

In der Oberstufe des Gymnasiums hatten wir einen Geschichtslehrer, der wie die meisten seiner Kollegen als Offizier aus dem Krieg gekommen war. Doch im Gegensatz zu fast allen anderen ließ er die Geschichte nicht 1933 enden. Studienrat Dombrück führte die allwöchentlichen »politischen fünf Minuten« ein. Nach dem Alphabet sollte jeder von uns einmal kurz über ein aktuelles politisches Ereignis berichten. So ergab der Zufall, dass der erste Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, gerade von West nach Ost gewechselt war, als ich das Thema für die fünf Minuten bestimmen durfte. Johns Rede auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin imponierte mir – vor allem mit seiner scharfen Anklage gegen die westliche Aufrüstungspolitik. Ich empfand diesen – später rückgängig gemachten – Auftritt als peinliche Niederlage der westlichen Propaganda und freute mich darüber. Ein Mitschüler meinte hingegen, ein Verräter wie John müsse mit dem Tode bestraft werden, ein anderer befand, atomare Aufrüstung müsse sein.

 

Der Osten war für mich kein Feind mehr. Nach dem Abitur ging ich nach Westberlin, weniger um an der sogenannten Freien Universität zu studieren, als um den Kommunismus aus der Nähe kennenzulernen. Es zog mich ins Berliner Ensemble, in die Buchhandlungen, zu Menschen, die den Nazis tatsächlich Widerstand geleistet hatten. Dann kurz nach Zürich, wo ebenfalls Emigranten aus Deutschland gutes Theater machten. Und nach Hamburg, wo ich neben dem Studium als Praktikant im Lektorat des Rowohlt Verlags interessante Schriftsteller kennenlernen konnte, angeleitet von Willi Wolfrath, der einst an der Weltbühne mitgearbeitet hatte. Ernst Rowohlt und sein Lektorat gaben mir stapelweise Manuskripte, die ich allesamt zur Ablehnung empfahl. Eines Tages aber bekam ich einen Roman, den ich als Weltliteratur bewertete: »Abschied« von Johannes R. Becher, dem im Westen verrufenen zeitweiligen Kultusminister der Deutschen Demokratischen Republik. Aber Rowohlt traute sich damals nicht, den Antikommunismus gar zu stark zu provozieren. (Unvergesslich ist mir seine Trauerfeier, für die er als Musikstücke »Ein feste Burg ist unser Gott« und »Die Internationale« ausgesucht hatte.)

 

Zwei zuverlässige Teilnehmer

Inzwischen hatten 18 Göttinger Professoren den Mut gefasst, gemeinsam gegen die von Adenauer und Strauß angestrebte atomare Aufrüstung zu protestieren. Initiator war der Atomphysiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker. Dessen Sohn Carl Christian war behilflich bei der Vorbereitung von Vortragsabenden an der Hamburger Universität – vom Völkerrecht bis zur Moraltheologie. Als ich im »Arbeitskreis Atomwaffen und Universität« eine Urabstimmung der Studierenden über die Atombewaffnung vorschlug, zog sich Weizsäcker jun. zurück – unter Hinweis darauf, dass das Bundesverfassungsgericht eine beantragte Volksabstimmung für verfassungswidrig erklärt hatte. Aus dem »Arbeitskreis« wurde der »Aktionskreis Universität gegen Atomwaffen«.

 

Die Satzung der Universität sah vor, dass eine Urabstimmung stattfinden musste, wenn mindestens zehn Prozent der Studierenden sie beantragt hatten. Die Universität musste dafür einen geeigneten Saal zur Verfügung stellen. Da sie selber über keinen verfügte, der groß genug gewesen wäre, mietete sie in richtiger Einschätzung des Andrangs die größte Messehalle auf dem »Planten un Blomen«-Gelände an. Ich trug den Abstimmungstext vor. Weizsäcker unterstützte ihn. Etwa zwei Drittel der Anwesenden stimmten zu. Nächste Veranstaltungen waren zwei Ausstellungen: eine wissenschaftliche über Atomexplosionen und deren Folgen und eine Kunstausstellung gegen Atomwaffen mit Werken aus der BRD und der DDR.

 

Zu den Sitzungen des Aktionskreises kamen gelegentlich unter anderem Claus Peymann, inzwischen langjähriger Intendant des Berliner Ensembles, und Dieter Wunder, später Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Absolut zuverlässig war Ulrich B.: immer bereit, Flugblätter aus der Druckerei zu den Verteilern zu transportieren oder Plakatständer aufzustellen und überhaupt alles zu tun, was andere nicht tun mochten. Eines Tages erhielt ich den glaubwürdigen Hinweis, Ulis Vater sei leitender Beamter der politischen Polizei. Was tun? Alle Aktiven unseres Kreises vor ihm warnen? Ihn ausschließen? Oder was? Ich entschied mich, ihn nicht anders zu behandeln als zuvor, allenfalls ihm noch mehr und noch größere Aufträge zu erteilen als zuvor und uns keinesfalls durch seine Anwesenheit beirren zu lassen. Er durfte gern alles, was er bei uns sah und hörte, an die Politische Polizei oder die Verfassungsschutzbehörde weitergeben. So blieben uns zeitraubende Auseinandersetzungen erspart.

 

Zuverlässig war auch – aber auf ganz andere Weise – Wolfgang P., ein älterer Jura-Student. In politischen Debatten lieferte er die klügsten, überzeugendsten Argumente. Ich besuchte ihn einmal, um über die wachsenden Probleme mit der SPD und mit deren Studentenverband SDS zu sprechen. Danach sagte ich – in meiner Vermutung bestärkt durch die vielen blauen Marx- und Engels-Bände im Regal –, ich hätte bisher wissentlich noch keinen Kommunisten kennengelernt, aber mit seiner Unaufgeregtheit und reichen Erfahrung und der Fähigkeit, politische und ökonomische Zusammenhänge herzustellen, entspreche er genau meinem Bild von einem Kommunisten. Er bekam einen hochroten Kopf, vor allem als ich hinzufügte, wenn meine Vermutung stimme, dann wolle ich gleich bei ihm um Aufnahme in die KPD bitten. P. schwieg eine Zeitlang und antwortete dann bedächtig: Er kenne Leute, die vielleicht Leute kennten, bei denen sich etwas in Erfahrung bringen lasse. Er wolle sich mal umhören.

 

Bald darauf zog ich nach Frankfurt.

 

Hausverbot, Berufsverbot

An anderen Universitäten waren ähnliche Aktionskreise entstanden wie in Hamburg. Ihre Sprecherinnen und Sprecher tragen sich regelmäßig. Unter ihnen waren Erika Runge (München), die später als Schriftstellerin bekannt wurde, Gerd Bessau (Karlsruhe), Eva Tietze (spätere Rühmkorf, Marburg), die es zur schleswig-holsteinischen Kultusministerin brachte, Reinhard Opitz (Westberlin), der die Nazi-Vergangenheit so kritisch aufarbeitete wie kein anderer, und Ulrike Meinhof (Münster), der es wie niemandem von uns gelang, in Debatten auf den Punkt zu kommen. Ich leitete unsere Zusammenkünfte. Auf dem Berliner Studentenkongress gegen Atomrüstung Anfang 1959 konzentrierten wir uns auf Forderungen nach ost-westlichen Verhandlungen über eine Friedenpolitik, die die atomaren Gefahren entschärfen sollte. Ein Rededuell zwischen dem späteren Hamburger Innensenator, Bundesverteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt und Ulrike Meinhof entschied diese so eindeutig für sich, dass er türknallend den Saal verließ. Einige Wochen später fand in Frankfurt am Main ein Kongress linker Jugend- (nicht mehr nur Studenten-) Verbände statt, der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze forderte. Die SPD-Führung schäumte und trennte sich in der Folge von ihrem damaligen Studentenverband. In Hamburg erhielt der Bundesvorsitzende des SDS, Oswald Hüller, Hausverbot im Kurt-Schumacher-Haus.

 

Karl Vittinghoff, damals Landesvorsitzender der SPD in Hamburg, rief mich zu sich: Bisher habe er zugelassen, dass Flugblätter des Aktionskreises im Kurt-Schumacher-Haus vervielfältigt wurden. Auch das neueste, das ich mitgebracht hatte – er sah es sich genau an –, könne dort noch einmal hergestellt werden. Aber es müsse klar sein, dass das nur geschehe, »um den Kommunisten den Wind aus den Segeln zu nehmen«.

 

Es dauerte ein Jahrzehnt, bis der SPD-Vorsitzende Willy Brandt für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze den Friedensnobelpreis erhielt. Rainer Barzel und andere Scharfmacher in der CDU/CSU warfen ihm vor, den antikommunistischen Konsens zu verraten. Die Hetze brachte ihn in solche politische Atemnot, dass er in einer Bundestagsdebatte über »Radikale im öffentlichen Dienst versicherte, man müsse ihn »nicht zum Jagen tragen, Herr Kollege Barzel«. Und sogleich begann das sozialdemokratisch regierte Hamburg per Senatserlass, entgegen Artikel 33 des Grundgesetzes (»Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.«) öffentliche Ämter für Mitglieder der 1968 gegründeten DKP und andere »Radikale« zu sperren. Frühere Mitglieder der verbotenen KPD hatten sich bei der DKP-Gründung nach vorbereitenden Gesprächen darauf verlassen, dass die Zeit der Illegalität, also der ständigen Bedrohung zu Ende gehe. Der damalige Bundesvorsitzende der FDP-nahen Jungdemokraten, Friedrich Neunhöfer, sprach von »einem kleinen Stück Faschismus«.

 

Ein kleines Stück Faschismus

Das kleine Stück vergrößerte sich schnell: Sogenannte Radikalenerlasse wurden in den anderen Bundesländern und auf Bundesebene in Kraft gesetzt. Betroffen waren Lehrer, Wissenschaftler, Lokomotivführer, Briefträger; ja, der niedersächsische Innenminister Rötger Gross (FDP) bezog auch den Beruf des Friedhofgärtners ein. Die Verfassungsschutzbehörden lieferten eifrig Material und meldeten zum Beispiel, es sei festgestellt worden, dass in der Nähe eines Versammlungslokals der DKP das Auto eines Lehramtsbewerbers gestanden habe, der deswegen unter Verdacht stehe, ein »Verfassungsfeind« zu sein. Auch ein Leserbrief an die DKP-Zeitung Unsere Zeit (nicht der Inhalt, sondern die Tatsache, dass er verschickt und gedruckt worden war) galt als Indiz. Die in Verhören mit den lächerlichsten Anschuldigungen Konfrontierten wurden gedrängt, der falschen Lehre abzuschwören. Opfer in vierter Generation wurde die Hamburger Familie Ahrens: Schon Urgroßvater, Großvater und Vater eines jungen Kommunisten hatten unter Kaiser Wilhelm und unter Hitler ihren Beruf nicht ausüben dürfen. In Bayern wurde ein Betroffener ernsthaft gefragt, wieso er sich wie sein Vater verhalte, nachdem doch dieser schon im KZ gesessen habe. Man müsse doch aus der Vergangenheit lernen. Sogar Mitglieder der seit 1969 in Bonn gemeinsam regierenden Sozial- und Freidemokraten gerieten wegen angeblicher Nähe zu Kommunisten in die Mühle.

 

Als Mitglied der Initiative »Weg mit den Berufsverboten« und des Heinrich-Heine-Fonds erfuhr ich von dem materiellen und psychischen Elend, in das viele Berufsverbotsopfer mit ihren Familien gestürzt wurden. Die Berufsverbieter aber ließen sich kaum erweichen, weder durch die Internationale Arbeitsorganisation noch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der entgegen einem üblen, 1977 von zwei alten Nazis mitbeschlossenen, das Grundgesetz auf den Kopf stellenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts das deutsche Berufsverbot im typischen Fall Dorothea Vogt als menschenrechtswidrig verurteilte. Die Solidarität reichte von einzelnen Gewerkschaften wie GEW und Postgewerkschaft bis zu ausländischen Sozialisten wie François Mitterrand, der öffentlich für Sylvia, die in Hessen berufsverbotene Tochter des Resistance-Kämpfers Peter Gingold, eintrat. Die IG Druck und Papier gab am Rande eines Gewerkschaftstages dem damaligen Vorsitzenden des Verbands deutscher Schriftsteller, Bernt Engelmann, und mir Gelegenheit zu einer öffentlichen Diskussion mit Willy Brandt, der die Berufsverbote als »Irrtum« erkannte – aber nichts tat, um die Opfer zu rehabilitieren und zu entschädigen.

 

Und bis heute schnüffeln sogenannte Verfassungsschützer gegen aktive Demokraten, verleumden beispielsweise Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes als Prokommunisten und Verfassungsfeinde. Wie lange noch? Und wie lange wird sich Ossietzky-Mitherausgeber Rolf Gössner der Jahrzehnte langen geheimdienstlichen Nachstellungen erwehren müssen? Und wann – um auf den Beginn meiner Geschichte zurückzukommen – beschließt der Bundestag endlich die Abschaffung der Atomwaffen?