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Titel1811

Reise nach Weimar  (Hannes Hofbauer)

Mit einer knappen Stunde U-Bahnfahrt muß man schon rechnen, wenn man von einem der innerstädtischen Verkehrsknotenpunkte ins ferne Weimar gelangen will. Die U-Bahnlinie 11 führt an das vorläufige nordwestliche Ende der pazifischen Metropole mit ihren 23 Millionen EinwohnerInnen. Auf dem Weg in Richtung Anting, von wo es dann nur mehr ein Katzensprung zur nachgebauten thüringischen Stadt ist, passieren wir »Shanghai Circuit«. Die chinesische Formel-Eins-Strecke wurde direkt ins Wasserland mit seinen ungezählten Teichen und Kanälen hineingebaut. Sie bleibt die längste Zeit im Jahr unbenutzt. In weiterer Folge durchquert die Metro, hier oberirdisch auf einer Stelzentraße geführt, die »Automobile City«; kilometerlang geht es an Werkshallen vorbei, in denen der Volkswagen-Konzern im »Joint venture« mit dem chinesischen Partner SAIC seine derzeit ertragreichste Produktionsstätte betreibt.

Endstation Anting. Die Suche nach Weimar kann beginnen. Ohne Kenntnis der chinesischen Sprache ist es am äußersten Rand von Shanghai schwierig, sich verständlich zu machen. Den Namen der Goethestadt einmal mehr und einmal weniger deutsch zu intonieren, hilft auch nicht weiter, bis wir in einer Bank auf einen Englisch sprechenden Angestellten stoßen. Der hat zwar auch noch nie etwas von »Eima«, »Weimer« oder »Wejmar« gehört, im KollegInnenkreis bricht allerdings eine rege Debatte darüber aus, wie und ob man den beiden langnasigen Kaukasiern auf ihrem Weg nach Weimar helfen könnte. Bis der Chef kommt. Der ermahnt seine MitarbeiterInnen mitnichten, an ihre Schreibtische und vor ihre Computer zurückzukehren, sondern stimmt in den Chor der Suchenden mit ein.

Plötzlich trifft eine der weiblichen Angestellten fast die deutsche Tonlage: »Wejma« – ja, sie hat davon gehört, keine drei Kilometer vom Bankinstitut in Richtung VW-Werk liegt das Bauprojekt. Die chinesischen Piktogramme für »Wejma« sind schnell aufgezeichnet, ein Taxi findet sich ebenso unproblematisch.

Weimar ist der eigenwillige Nachbau einer deutschen Stadt, so wie ein chinesisches Architektenteam sie sich vorgestellt hat. Um einen Kern von 50 bis 70 dreistöckigen Häusern, teilweise im Backstein-Imitat gehalten, reihen sich »Weimar-Villa 1« bis »Weimar-Villa 5«. Von Wachleuten abgeschirmt und mit Schlagbäumen versehen, stehen in diesen »gated communities« Hunderte von Einfamilienhäusern. Ihre im Bauhaus-Stil errichteten Quader erinnern eher an einen Stadtteil in Dessau als an Weimar. Die Anlage bietet einen auffälligen Kontrapunkt zum üblichen hektischen Treiben der Stadt. Auf weiten Strecken herrscht gähnende Leere, die meisten Häuser scheinen unbewohnt. Nur gelegentlich fährt ein PKW eine deutsche Häuserzeile entlang.

Die subtropische Sommerhitze mit einem extrem feuchten Klima und Tagestemperaturen von 38 bis 39 Grad Celsius lassen kaum ein Weimar-Gefühl aufkommen. Doch die Architekten haben ihr Bestes gegeben. Etwas abseits der zentralen Verkehrsachse taucht ein riesiger, aus Steinen und Marmor gestalteter Platz auf. Er erinnert uns sogleich an das Gauforum, das der thüringische NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel am Rande der Weimarer Innenstadt errichten ließ. Hier in Anting, am Rande von Shanghai, hat es eine Kopie bekommen. Direkt nebenan, weder historisch noch architektonisch passend, ragt eine christliche Kirche in massiver Betonbauweise in die glühende Sommerhitze; hinter ihr stehen neben einem undeutschen Kanal undeutsche Bananenstauden.

Weimar will erst besiedelt werden. In einem der Maklerbüros, die an jeder zweiten Straßenecke auf Interessenten warten, erkundigen wir uns nach Kauf- und Mietpreisen. Für umgerechnet 180.000 Euro wäre ein 125 bis 140 Quadratmeter großes Appartement zu erwerben. Bauhaus-Häuser kosten mehr. Die Maklerin spricht leidlich englisch, preist die möglichen zukünftigen Nachbarn als arbeitsame Leute. Viele von ihnen, so ihre Erwartung, werden im nahen Volkswagen-Werk tätig sein, nur eine U-Bahnstation von Anting entfernt, dem auch Weimar zugerechnet wird.