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Titel2209

Rückmeldung  (Dietrich Kittner)

Nach fast siebenmonatiger erzwungener Schreibuntätigkeit sitze ich jetzt versuchsweise vor dem inzwischen auf gut einen halben Meter angewachsenen Stapel unbearbeiteten Materials und beginne zu sichten.

Die meisten deutschen Gazetten beschäftigen sich ausgiebig mit dem für sie offenbar wichtigen Ereignis der Bundestags- und Landtagswahlen. Mich läßt das eher kalt. Die Linie liegt ohnehin seit eh und je fest: Die einen verprassen ihre streng gedeckelten ALG-II-Boni verantwortungslos bei Lidl, für die anderen zahlt die Solidargemeinschaft aller Niedrigverdiener aus sozialer Verantwortung gern ein paar hundert Milliarden Euro Nothilfe. Geht es einem ganz schlecht, wird er halt auf Steuerzahlers Kosten von der Kanzlerin persönlich wohltätig in der Suppenküche des Kanzleramts gespeist. Daran ändern auch Regierungswechsel nichts. Wie sagt doch der Volksmund so richtig: Pack verträgt sich.

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Frau Angela Merkel gilt ihren Untertanen längst im Abonnement als beliebteste Politfigur. Zugleich erklären laut ARD-Umfrage rund drei Viertel der Befragten, sie hielten Wahlversprechen für völlig unglaubwürdig. Die beliebteste Lügnerin der Deutschen also?

An zweiter Stelle folgt der CSU-Schnösel Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jakob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg. Der junge Herr wurde jetzt zum bestgekleideten Deutschen gewählt. Sind das nicht Ministerqualitäten? Er hat ja immerhin, anders als die meisten Berufsregierer, einen erlernten seriösen Beruf im Hintergrund. Im Notfall kann er auf model umsatteln. Und der Bub hat sogar wirtschaftlichen Weitblick. Erst dieser Tage verlegte er den Firmensitz der freiherrlichen Guts- und Vermögensverwaltung nach Österreich. Aus Sicherheitsgründen, wie er verlautbaren ließ. Man kann ja nie wissen …

Mehr noch: Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jakob Philipp Franz Joseph Sylvester spricht Englisch! Da ist unser designierter Außenkasperl Guido sicher echt neidisch. Einen Vorteil hat die Sache allerdings: Die teuren, traditionsgemäß vorwiegend für den kalten deutschen Winter eingeplanten Dienstreisen des Witzekanzlers in die Tropen werden teilweise eingespart. Wie will der Mann sich im täglichen VIP-Leben an wärmeren Gestaden denn verständigen? »Can I become a steak?«

Unlängst hat der Oberliberale in einer Pressekonferenz die auf englisch gestellte Frage eines ausländischen Journalisten nach kurzem Zögern mit der klaren Aussage beschieden: »Wir sind in Deutschland. Da spricht man deutsch.« Wer denkt da nicht an Ribbentrops Diplomatenkünste.
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Jetzt im Überblick wird deutlicher noch: Die schmierige Deutscherei, der je nachdem unterschwellige oder offene Neonationalismus in den Medien nimmt zu. Nach dem Ausbruch der Seuche anläßlich der deutschen Wiedereinverleibung 1990 und der Massensuggestion WeEmm 2006 ist die Vokabel national wieder fest in den normalen Sprachgebrauch eingegliedert. National hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit Nazis zu tun. Deutschlandfunk und DeutschlandRadio Kultur firmieren auch offiziell als »Die nationalen Rundfunksender«. »Deutsches Flüchtlingselend« und »Die Not der Deutschen nach 1945« nehmen einen großen Teil der Fernsehzeit ein. In den Illustrierten: »Die Geschichte der Deutschen«, »Die Germanen«, »Als die Deutschen weg waren – Ostpreußen«. Die Ägypter wollen unsere (sic) Nofretete. »Ausgewogene« Analysen darüber, wie wir Deutschen in den Ersten beziehungsweise Zweiten Weltkrieg »schlidderten«. Nationale Sicherheitskonferenz, Nationaler Stadtplanerkongreß. Hätte da der seriöse Zeitungstitel Deutsche Nationalzeitung etwas Anrüchiges? Fehlt nur noch die »Kriegsschuldlüge«.

Den Vogel schießt mal wieder ein bekanntes Hamburger Montagsmagazin ab – natürlich mit dem obligatorischen Führerbild auf der Titelseite. Es hat erst unlängst den wahren Schuldigen am Holocaust geoutet: Stalin. Die Geschichte muß umgeschrieben werden, und das geht so:
Mit Hilfe von Satzfetzen williger Historiker verkündet das Blatt: »Auf über 200.000 schätzen Experten (…) die Zahl der Nichtdeutschen, die die ›Mordaktionen vorbereiteten, durchführten und unterstützten‹ – ungefähr genauso viele wie Deutsche und Österreicher (…) Völlig unstrittig ist, daß es ohne Hitler, SS-Chef Heinrich Himmler und die vielen, vielen anderen deutschen Volksgenossen den Holocaust nie gegeben hätte. – Gewiß ist allerdings auch, daß ›die Deutschen den millionenfachen Mord an den europäischen Juden nicht allein hätten bewerkstelligen können‹ (…) Denn SS, Polizei und Wehrmacht fehlte es an Personal, um die riesigen Gebiete zu durchkämmen, in denen die NS-Führung alle Menschen jüdischer Herkunft umzubringen suchte (…) Handelt es sich bei der sogenannten Endlösung der Judenfrage womöglich um ein ›europäisches Projekt, das sich nicht allein aus den speziellen Voraussetzungen der deutschen Geschichte klären läßt‹? (…) Stellt der Holocaust also womöglich nicht nur den Tiefpunkt der deutschen, ›sondern eben auch der europäischen Geschichte‹ dar (…)? Vor allem aber scheint es sich bei den Pogromen um eine Art imaginäre Rache gehandelt zu haben. Denn die Annahme, daß ›die‹ Juden eine Art Basis für die sowjetische Herrschaft bildeten, zog weite Kreise, weil Kommunisten jüdischer Herkunft zeitweise in einigen Bereichen des sowjetischen Apparats überrepräsentiert waren. Die Täter machten daher ›die‹ Juden für jene Verbrechen verantwortlich, welche die Sowjets in den Jahren der Besatzung Ostpolens zwischen 1939 und 1941 begangen hatten (…).« Die in den Artikel eingestreuten, teilweise nichtssagenden Satzfetzen (»sondern eben auch der europäischen Geschichte«) stammen von den Historikern Dieter Pohl, Michael Wildt und Götz Aly. Der Rest ist Spiegel.

Knapper also: Hätte Stalin, den der Spiegel bei Bedarf sonst auch gern mal des radikalen Antisemitismus zeiht, nicht in einigen Bereichen Juden überrepräsentiert, dann wäre eine Art imaginäre Rache unterblieben, die Endlösung der Judenfrage womöglich kein europäisches Projekt geworden und der Holocaust wegen Personalmangels ausgefallen.
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Während des NATO-Überfalls auf Jugoslawien habe ich in meinem »Kriegstagebuch« (Ossietzky 7 bis 13/99) vorausgesagt, daß bald wieder neue deutsche Tapferkeitsorden diverse Heldenbrüste zieren würden; später (Ossietzky 5/06) habe ich über neudeutsche Kriegerdenkmäler spekuliert. Ach, ich ewiger Rechthaber! Inzwischen darf unsere brave, anständige schimmernde Wehr am Hindukusch ihr erstes ordnungsgemäß durchgeführtes Massaker an über hundert Zivilisten verbuchen. Da wage ich jetzt, vorausschauend zu hoffen, daß in dreißig oder vierzig Jahren analog zur bekannten Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht irgendwer auch eine aufklärende Ausstellung über die der Bundeswehr initiieren wird.