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Titel2209

Gift im schönen Ding  (Monika Köhler)

Das ist laut Ankündigung der »Appetizer« zur Indischen Woche 2009. In Hamburg präsentiert Kampnagel das Tanztheater mit dem anregenden Titel: »Beautiful Thing 1«. Gibt es Nr. 2 als Fortsetzung? Ich sitze in Halle K2 und grübele über die »mathematische Formel«, die uns die indische Tänzerin und Choreographin Padmini Chettur zum Lösen aufgibt. Die Schülerin der berühmten Chandralekha, 1970 geboren, hat den klassischen Tanz Bharatanatyam, in dem alle Gesten festgelegt sind und eine Bedeutung haben, weiterentwickelt.

Die fünf jungen Tänzerinnen in ihren kurzen Kleidchen wirken fast wie Kinder, sind ohne Zweifel »beautiful«, auch ohne die traditionellen Tanzkostüme und ohne Schmuck. Indische Musik ist es nicht, was Maarten Visser bietet – es sind rhythmische Geräusche. Alles sehr langsam. Auch die Bewegungen der Tänzerinnen. Jeder Körperteil wird geprüft, auf seine Tauglichkeit getestet – so scheint es. Die Mädchen sollen Teil eines mathematischen Gefüges sein, das sich nur schwer erschließen läßt. Die Bewegungsblöcke werden »addiert, subtrahiert und multipliziert«, schreibt Padmini Chettur über ihr Stück. Die Zeitabläufe sind vorgegeben, geben keinen Raum für individuelle Gestaltung. Eine immer wiederkehrende Bewegung ist das Hochreißen des Kopfes, von der Hand unterstützt. Wie eine Geste gegen das Einschlafen.

Kann Sprache helfen? Die Tänzerinnen führen vor und benennen ein Bein, einen Arm oder ein anderes Schönes Ding, wie eine Vision: eine Lotusblume.

Die Bühne ist leer, die Zeit dehnt sich. Dann geschieht etwas. Die Mädchen greifen sich Baumwollpullis, die unbeachtet am Bühnenrand lagen, streifen sie sich über. Und nun beginnt ein merkwürdiges Gezerre an den Pullis, als wären es Gummibänder. Wie eine Haltbarkeits- oder Materialprüfung.

Was importiert Deutschland aus Indien über den Hamburger Hafen als »Partner mit Perspektiven«? Vor allem Textilien. Die quälende Langsamkeit, das Nicht-Verstehen weicht der Erkenntnis, daß bei der mathematischen Formel tatsächlich »am Ende alles aufgeht«, wie die Choreographin behauptete. Der Alltag einer indischen Textilarbeiterin, verfremdet und befremdend, das Herstellen von »schönen Dingen«. Aber noch ist der Tanz nicht zu Ende. Die Mädchen ziehen krampfhaft an den Kleidungsstücken. Ein Versuch, sich die Haut vom Leib zu reißen? Die brennende Haut? Das Gift im beautiful thing? Vielleicht ist es der Giftgas-Unfall 1984 im Werk des US-Konzerns Union Carbide in Bhopal. Auch das Erkennen braucht Zeit. Oder stellt sich nicht ein. Springers Welt glaubt darin ein Bild von »Harmonie, selbst wenn die Körper sich verformen« zu sehen.

Zum Schluß stürzen die Tänzerinnen zu Boden, liegen da mit ausgebreiteten Armen, bewegen sich kaum noch, aus. Es ist ganz dunkel geworden.