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Titel2512

Der Starke und das Süße  (Uri Avnery)

Es war ein Tag der Freude. Freude für das palästinensische Volk. Freude für all die, die auf Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt hoffen. Und – auf bescheidene Weise – auch für mich persönlich.

Die UNO-Vollversammlung, das höchste Forum der Welt, hat mit überwältigender Mehrheit für die Anerkennung des Staates Palästina gestimmt, wenn auch in begrenzter Weise. Die Resolution 181, die auf den Tag genau vom selben Forum vor 65 Jahren angenommen wurde und die historische Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorsah, ist endlich bekräftigt worden.

Während des Krieges von 1948, der der ersten Resolution folgte, kam ich zu der Schlußfolgerung, daß ein palästinensisches Volk existiert und daß die Errichtung eines palästinensischen Staates neben dem neuen Staat Israel eine Vorbedingung für Frieden ist. Als einfacher Soldat kämpfte ich in Dutzenden Gefechten gegen die arabischen Einwohner Palästinas. Ich sah, wie Dutzende arabischer Städte und Dörfer zerstört und unbewohnt zurückgelassen wurden. Lange bevor ich den ersten ägyptischen Soldaten zu Gesicht bekam, sah ich, wie das palästinensische Volk, für seine Heimat kämpfte. Vor dem Krieg hoffte ich, die Einheit des Landes, das beiden Völkern so teuer war, könnte gewahrt werden. Der Krieg überzeugte mich, daß dieser Traum für alle Zeiten zerstört ist.

Ich war noch in Uniform, als ich Anfang 1949 versuchte, eine Initiative zur Realisierung dessen zu gründen, was heute Zwei-Staaten-Lösung genannt wird. Ich traf mich hierzu in Haifa mit zwei jungen Arabern. Der eine war ein Muslim, der andere ein drusischer Scheich. (Beide wurden vor mir Knessetmitglieder.) In jener Zeit schien das Vorhaben jedoch eine unmögliche Mission zu sein. »Palästina« war von der Karte gewischt. 78 Prozent des Landes waren zu Israel geworden, die restlichen 22 Prozent zwischen Jordanien und Ägypten aufgeteilt. Das israelische Establishment leugnete vehement die Existenz eines palästinensischen Volkes, die Leugnung wurde ein Glaubensgebot. Golda Meir erklärte später: »So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht.« Geachtete Scharlatane schrieben populärwissenschaftliche Bücher, die »bewiesen«, daß die Palästinenser Prätendenten sind, die erst vor kurzen angekommen seien. Die israelische Führung war überzeugt, das »palästinensische Problem« sei verschwunden – ein für alle Mal.

1949 gab es keine hundert Personen auf der ganzen Welt, die an eine Zwei-Staaten-Lösung dachten. Kein einziges Land unterstützte sie. Die arabischen Länder glaubten noch immer, Israel werde verschwinden; Großbritannien unterstützte seinen Klientel-Staat, das haschemitische Königreich Jordanien. Die USA hatten ihre eigenen lokalen Diktatoren. Stalins Sowjetunion unterstützte Israel. Mein Kampf war ein einsamer Kampf. Während der nächsten 40 Jahre brachte ich als Herausgeber eines Wochenmagazins dieses Thema fast wöchentlich zur Sprache. Als ich in die Knesset gewählt wurde, tat ich dort dasselbe.

1968 flog ich nach Washington DC, um dort für die Idee zu werben. Ich wurde höflich von den zuständigen Offiziellen im Außenministerium (Joseph Sisko), im Weißen Haus (Harold Saunders) und in der amerikanischen Vertretung der UNO (Charles Yost) empfangen, außerdem von führenden Senatoren und Kongreßmitgliedern sowie vom britischen Verfasser der Resolution 242 (Lord Caradon). Sie alle antworteten ausnahmslos: Ein palästinensischer Staat kommt nicht in Frage.

Als ich dann in einem Buch die Lösung veröffentlichte, griff mich die PLO 1979 in Beirut mit der Gegenveröffentlichung »Uri Avnery und der Neo-Zionismus« an.

Heute besteht weltweit Konsens, daß eine Lösung des Konfliktes ohne einen palästinensischen Staat nicht in Frage kommt.

Warum sollte ich jetzt nicht feiern?

Warum jetzt? Warum war es dazu nicht vorher oder später gekommen?

Wegen der Militäroperation »Wolkensäule«, dem historischen Meisterstück von Benjamin Netanjahu, Ehud Barak und Avigdor Lieberman.


Die Bibel erzählt uns von Samson, dem Helden, der mit bloßen Händen einen Löwen zerriß. Als er zu diesem nach einiger Zeit zurückkam, hatten Bienen aus dem Kadaver des Löwen einen Bienenstock gemacht, in dem sie Honig produzierten. So stellte Samson den Philistern das Rätsel: »..., vom Starken kommt Süßes.« Dies ist ein hebräisches Sprichwort.

Aus der »starken« israelischen Militäroperation gegen den Gazastreifen kam Süßes. Es ist eine weitere Bestätigung der Regel, daß man bei Beginn eines Krieges oder einer Revolution nie weiß, was dabei herauskommt.

Eines der Resultate der Operation war, daß das Prestige und die Popularität der Hamas in den Himmel wuchsen, während die Palästinenserbehörde von Mahmoud Abbas (Fatah) in neue Tiefen abrutschte. Ein Ergebnis, das der Westen unmöglich dulden konnte. Eine Niederlage der »Gemäßigten« und ein Sieg der islamistischen »Extremisten« wäre für Präsident Barack Obama und das ganze westliche Lager eine Katastrophe gewesen. Es mußte etwas gefunden werden – und zwar rasch – um Abbas zu einem haushohen Erfolg zu verhelfen. Zum Glück war Abbas schon dabei, die Anerkennung der UNO für einen palästinensischen »Staat« (doch noch nicht als volles Mitglied der Weltorganisation) zu bekommen. Abbas’ Schritt der Verzweiflung wurde plötzlich zu einer Siegesfackel.

Der Konkurrenzkampf zwischen Hamas und Fatah-Bewegung wird als Katastrophe für die palästinensische Sache gesehen. Aber es gibt auch eine andere Lesart. Werfen wir einen Blick zurück. Während der 1930er- und 1940er-Jahre war unser Befreiungskampf (wie wir ihn nannten) in zwei Lager gespalten, die einander mit wachsender Intensität haßten. Auf der einen Seite stand die von David Ben Gurion geleitete »offizielle« Führung, vertreten durch die »Jüdische Agentur«, die mit der britischen Verwaltung kooperierte. Ihren militärischen Arm bildete die Haganah, eine sehr große, halboffizielle Miliz, die von den Briten toleriert wurde. Auf der andern Seite war die Irgun (»Nationale militärische Organisation«), der bei weitem radikalere bewaffnete Flügel der nationalistischen »revisionistischen« Partei von Wladimir Jabotinsky. Und diese spaltete sich, und eine noch radikalere Organisation (Lechi – Kämpfer für die Freiheit Israels) entstand. Die Briten nannten sie nach ihrem Gründer »Stern-Bande«. Die Feindseligkeit zwischen den Organisationen war groß. Eine Zeitlang kidnappten Haganah-Mitglieder Irgun-Kämpfer und lieferten sie der britischen Polizei aus, die sie folterte und in afrikanische Lager schickte. Ein blutiger Bruderkrieg wurde nur durch den Irgun-Führer Menachem Begin vermieden, der alle Racheakte verbot. Im Gegensatz dazu drohten die Stern-Leute der Haganah, sie würden jeden erschießen, der ihre Mitglieder anzugreifen versuchte.

Rückblickend können die beiden Seiten als zwei Arme desselben Körpers gesehen werden. Der »Terrorismus« der Irgun und der Stern-Bande unterstützte die Diplomatie der zionistischen Führung. Die Diplomaten nutzten die Errungenschaften der Kämpfer aus. Um die wachsende Popularität der »Terroristen« auszubalancieren, machten die Briten gegenüber Ben Gurion Konzessionen. Einer meiner Freunde nannte die Irgun »Die Schießagentur der Jüdischen Agentur«.

In gewisser Weise ist dies heute die Situation im palästinensischen Lager. Seit Jahren hat die israelische Regierung Abbas mit den schlimmsten Konsequenzen gedroht, wenn er es wagen würde, zur UNO zu gehen: Das Oslo-Abkommen für ungültig zu erklären und die Palästinenserbehörde zu zerstören, sei das Mindeste, Lieberman nannte den palästinensischen Schritt »diplomatischen Terrorismus«.

Und nun? Nichts. Kein Pauken- und kaum ein Wimpernschlag. Sogar Netanjahu versteht, daß die Operation »Wolkensäule« eine Situation geschaffen hat, in der die Unterstützung der Welt für Abbas unvermeidlich geworden ist.

Was tun? Nichts. Das Ganze höchstens als Scherz abtun. Wen kümmert’s? Was ist denn schon die UNO? Welchen Unterschied macht es?

Netanjahu ist mit etwas ganz anderem, das ihm Ende November widerfuhr, beschäftigt. Bei den Likud-Vorwahlen wurden alle »Moderaten« seiner Partei ohne Umschweife hinausgeworfen. Kein liberales demokratisches Alibi wurde zurückgelassen. Die Likud-Beitenu-Fraktion wird in der nächsten Knesset ganz aus Extremisten des rechten Flügels zusammengesetzt sein, unter ihnen mehrere komplette Faschisten – Leute, die die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofes zerstören, die Westbank dicht mit Siedlungen bedecken und den Frieden und einen palästinensischen Staat mit allen nur möglichen Mitteln verhindern wollen.

Während Netanjahu sicher ist, die bevorstehenden Wahlen zu gewinnen und weiter als Ministerpräsident zu wirken, ist er zu klug, um nicht zu sehen, in welcher Lage er sich jetzt befindet: Er ist eine Geisel der Extremisten, die ihn wahrscheinlich aus seiner eigenen Knessetfraktion hinauswerfen, wenn er nur etwas in Richtung Frieden erwähnt, und ihn jederzeit durch Lieberman ersetzen können.

Auf den ersten Blick hat sich nicht viel verändert. Aber nur auf den ersten Blick. Was ist geschehen? Die Gründung des Staates Palästina ist nun offiziell als Ziel der Weltgemeinschaft anerkannt worden. Die »Zwei-Staaten-Lösung« ist jetzt die einzig mögliche Lösung. Die Ein-Staaten-Lösung, falls es sie je gegeben hat, ist mausetot. Selbstverständlich ist der israelische Apartheid-Staat Realität. Falls sich von Grund auf nichts ändert, werden sich seine Wesenszüge vertiefen und verstärken. Fast täglich gibt es neue Nachrichten, daß er sich weiter etabliert. Das Bus-Monopolunternehmen hat beispielsweise gerade angekündigt, von jetzt an gebe es in Israel getrennte Busse für Westbank-Palästinenser.

Aber das Streben nach Frieden, das sich auf die Koexistenz Israels und Palästinas gründet, hat einen großen Schritt vorwärts gemacht. Einigkeit zwischen den Palästinensern sollte das Nächste sein. Die US-Unterstützung für die aktuelle Errichtung des Staates Palästina sollte bald folgen.

Das Starke muß zum Süßen führen.

Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert, redaktionell leicht gekürzt.