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Titel2519

Bei starken Frauen in der Wüste Lut  (Rainer Butenschön)

In vier Pickup-Geländewagen brausen wir auf einer schnurgeraden Straße nach Norden. Bald können wir die Dattelpalmen des Dorfes Shafiabad nicht mehr sehen. In der Oase hat unsere Gruppe in einer traditionellen Unterkunft Quartier bezogen, einer kleinen Pension mit acht Gästezimmern.

 

Neben dem Asphalt krallen sich vom Wind gebeugte Büsche auf niedrigen braunen Sandhügeln fest. Bald fehlt jedes Grün. Dunkel erheben sich westlich von uns die 4000 Meter hohen Gipfel des kahlen Kuhpayeh-Gebirges, das unser Kleinbus am Morgen auf dem Weg zur Exkursion in die Wüste »Dascht-e-Lut« auf 2400 Metern Höhe in einem Tunnel gequert hat. »Lut« bedeutet auf Farsi in etwa »nackte Erde ohne Wasser und Vegetation«. Nach 20 Minuten Vollgas bremsen die Fahrer, lenken die Pickups von der Straße vorsichtig in Richtung Osten. Staubfahnen zeigen, wo die einzelnen Wagen durch den Wüstensand kurven. Alle Fahrer machen sich einen Spaß daraus, mit heulendem Motor hohe Sanddünen hinaufzudonnern und auf der anderen Seite wieder so hinabzujagen, dass ich manchmal fürchte, unser Auto könnte sich überschlagen.

 

Wir scheinen auf ein anderes Gebirge in der Ferne zuzusteuern. Beim Näherkommen erweist es sich als eine Ansammlung locker gruppierter Felsenkämme und -türme. Es sind riesige bizarre Skulpturen in Brauntönen, sogenannte Kaluts, die der Wind in Jahrtausenden aus dem weichen Gestein geschliffen und noch nicht zu Sandkörnern zerbröselt hat. In keiner anderen Wüste sollen diese Gebilde so groß sein wie hier im Osten des Irans, wo die Lut sich auf knapp 200.000 Quadratkilometern Fläche dehnt. Sie könnte ganz Bayern, Österreich und die Schweiz zusammen bedecken.

 

In grauer Vorzeit war sie mal ein Binnenmeer, heute ist sie eine riesige Senke, deren zentraler Teil 185 Meter tiefer liegt als der Meeresspiegel. Die NASA hat hier vom Weltall aus mit Infrarotradiometern die heißesten Sommertemperaturen auf unserem Globus gemessen: 70,7 Grad Celsius!

 

Wir machen gerade einen Pausenstopp, trinken Tee, genießen im kühlenden Wind den Blick über die grandiose Landschaft, als mein Handy klingelt: Ein Anruf aus Hannover mitten in der Wüste! Ich bin verblüfft. Die Verbindung ist einwandfrei, und ich denke: Die Manager der deutschen Telekommunikations-Konzerne sollten im Iran eine Fortbildung zum Thema Netzabdeckung absolvieren, Funklöcher gibt es hier anscheinend nicht. Ein Eindruck, den auch unser Reiseleiter bestätigt, der während unserer 2500 Kilometer langen Überlandfahrten telefonisch und per E-Mail immer wieder problemlos Kontakt zu anderen Reisegruppen und zu seinem Büro in Göttingen hält.

 

Auch sonst beeindruckt uns die iranische Infrastruktur: Ein Netz gepflegter Fernstraßen überzieht das Land, Strom und elektrisches Licht haben wir hier im kleinsten Berg- oder Wüstendorf angetroffen, ebenso Trinkwasser-, Abwasser- und Gasleitungen.

 

Nach der Teepause fahren wir wieder auf die Asphaltstraße, aber nicht zu unserem Dorf, sondern erneut in Richtung Norden – bis ein Sandhügel den Weg sperrt. Unsere Pickups überrollen ihn mühelos, doch bald sieht der Asphalt über hunderte von Metern so aus, als habe unter ihm ein Erdbeben gewütet. Die Pickups umkurven auch diese Stellen, und wir trauen unseren Augen nicht: Vor uns erstreckt sich ein riesiger blauer See, in dem die Straße versinkt. Keine Fata Morgana, es sind Reste der Wassermassen, die während der Regenfälle im Frühjahr durch die Wüste gerauscht sind, die Straße unterspült und sich hier gestaut haben. Wo das Nass inzwischen verdunstet ist, überzieht eine weiße Salzkruste den Sand.

 

Es ist Freitag, der Feiertag der Muslime: Bald sammelt sich hinter uns ein halbes Dutzend Autos iranischer Ausflügler, darunter vier Krankenschwestern aus der drei Autostunden entfernten Großstadt Kerman, die uns von ihrer anstrengenden Arbeit erzählen. Unsere Fahrer stellen Tisch und Campingstühle für ein Picknick auf.

 

Zurück in Shafiabad machen wir einen Gang durch die staubige Oase, die früher Teil einer Kamelroute nach Pakistan war. Wir spazieren um die restaurierten hohen Lehmmauern und -türme einer ehemaligen Karawanserei. In deren Eingangshalle treffen wir auf drei Frauen. Sie hocken auf Teppichen und sticken, bieten Kunsthandwerk feil: Stoffpuppen, gewebte (Tisch-)Decken, bunte Stofftaschen. Bekleidet mit schwarzem Kopftuch, taillierter Bluse und weißen Sneakers heißt uns eine zierliche junge Frau willkommen, Fariba. Sie zeigt auf Einkaufstaschen, die die Frauen aus getrockneten Palmwedeln geflochten haben: So wie dieses ineinandergreifende Flechtwerk heiße ihre Frauengruppe auf Farsi: »Gojino«. Sie selbst habe die Gruppe nach ihrer Scheidung gegründet. Ziel der Frauen sei es, unabhängig von den Männern zu leben und nicht aus Geldnot in ihre Familien zurückkehren zu müssen, wie das sonst bei Trennungen üblich sei. Wegen des Widerstands der Männer sei es nicht leicht gewesen. Anfangs habe »Gojino« nur sechs Frauen gezählt, ein einziger junger Mann habe sie unterstützt. Inzwischen aber arbeiteten 150 alleinstehende Frauen aus dem Dorf und der Umgebung in dem Verein selbstbewusst und solidarisch zusammen.

 

Durchgesetzt haben sie, dass das alte Badehaus restauriert wurde und »Gojino« es als Verkaufsgebäude nutzen darf. In dem schmucken Ziegelbau sehen wir an einer Pinnwand viele Fotos der Frauen – wie sie unter Palmen sitzen und gemeinsam sticken oder wie sie schweißnass mit Schaufel und Schubkarre Bewässerungskanäle reinigen. »Inzwischen leben die Männer und wir Frauen mit Respekt nebeneinander«, berichtet Fariba und strahlt, als wir beeindruckt Beifall klatschen.

 

Den spenden wir am Abend auch unserer Wirtin. Sie bemuttert uns mit ihren beiden Schwiegertöchtern im großen Wohnraum der Familie, der mit Teppichen ausgelegt ist, auf denen in der Nacht Familienmitglieder schlafen. Hinter einem offenen Tresen befindet sich rechts die moderne Küche, in der Ecke links daneben sind Tische für uns mit Fladenbrot, Schafskäse, Kräutern, gebratenem Gemüse, Joghurt und frischen Datteln gedeckt. Zu trinken gibt es Tee, Cola und andere Softdrinks. Dutzende bunte Fähnchen an den Wänden zeigen, dass hier Touristen aus vielen Ländern Quartier nehmen. Die Idee, eine Pension zu eröffnen, sei geboren worden, berichtet die Wirtin, als vor einigen Jahren in der Nacht ein Mann am Tor ihres Farmhauses klopfte. Der Iraner chauffierte zwei Europäerinnen von der berühmten Lehmstadt Bam im Südosten der Wüste zurück nach Kerman im Westen, als sein Auto vor dem Dorf eine Panne hatte. Da war die Familie – gastfreundlich, wie die Iraner sind – auf den Teppichen für die Nacht zusammengerückt. Das sprach sich rum: Wenig später klopften Motorradtouristen: Sie hätten gehört, hier gebe es Schlafquartiere.

 

Das iranische Staatsfernsehen dokumentierte den Umbau des Hauses zur Touristen-Lodge in einem 20-minütigen Film. Die Wirtin zeigt uns das Video auf einem breiten LED-Bildschirm, der an der Wand im Wohnraum hängt: Wir sehen, wie einer unserer Pickup-Fahrer, der Ehemann der Wirtin, Fenster streicht, Wände mit Lehm verputzt, Touristen durch die Kaluts fährt. Uns macht der Film vor allem eines deutlich: Hirn und Boss des kleinen Unternehmens ist nicht der Ehemann, sondern diese starke Frau. Zwei Monate habe sie auf der Tourismusschule in Kerman gelernt, berichtet sie und sinniert: Um noch Englisch zu lernen, sei sie wohl zu alt. »Im Film hat sie auch gesagt«, übersetzt Niemann, »sie sehe in den Gästen nicht Reisende, sondern Mitglieder der Familie.« Wir applaudieren!

 

Wie die iranischen Frauen die Gesellschaft verändern, beleuchtet Charlotte Wiedemann in ihrem hervorragenden Buch: »Der neue Iran – eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten«, München 2019, 285 Seiten, 11,90 €.

 

In einer der kommenden Ausgaben: Ein Kommunist kehrt in den Iran zurück. Die Teile I und II der Reisenotizen von Rainer Butenschön erschienen in Ossietzky 23/2019 und 24/2019.