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Titel317

Mutter Courage, heute  (Monika Köhler)

Ich bin irritiert: Mutter Courage ohne Planwagen? Im Hamburger Thalia Theater ist das so. Die Bühne (Bettina Pommer) ein graues Halbrund, hinten ansteigend. Dort sitzt das Orchester. Keine Drehbühne, die das Dagegen-Anlaufen, die Beschwerlichkeit des Wagenziehens, sichtbar macht. Mutter Courage (Gabriela Maria Schmeide) steht auf der Bühne, singt stehend ihr Lied, kraftlos – jetzt schon erschöpft? Statisch, das Ganze. Das dachte sich wohl auch der Regisseur (Philipp Becker) und ließ Menschen über die Bühne laufen, kreuz und quer, ziellos? In ersten Kritiken ist von »Menschenmassentableaus« die Rede. Ein Teil des Bühnenbilds? Es beginnt gleich wie bei Bert Brecht: »Nur wo Krieg ist, gibt’s ordentliche Listen und Registraturen …, wird Mensch und Vieh sauber gezählt und weggebracht, weil man eben weiß: Ohne Ordnung kein Krieg!« Wer denkt da an die Flüchtlinge, die heute von den Kriegen, die wir führen, nach Europa getrieben werden? Die Bühnenbildnerin assoziiert einen »Heuschreckenschwarm« – den Krieg, der sich durch »eine Landschaft« frisst und eine »Leere« hinterlässt. Die Dynamik, die Menschenmassen auf die Bühne bringen, schlägt ins Gegenteil um, wenn aus ihnen ein festes Gefüge wird: der Kammerchor Altona mit über 60 Mitgliedern. Für die Musik ist hier in Hamburg nicht nur Paul Dessau verantwortlich, sondern auch Johannes Hofmann, der Kompositionen für den Chor entwickelte, die allem eine diffus weihevoll religiöse Stimmung verleihen. Die Worte, zumindest akustisch, schwer verständlich. Genau dasselbe geschieht hier dem Brecht-Text. Galt doch für den Regisseur die Devise, nur nicht »so lehrstückhaft«, wie er im Hamburger Abendblatt bekannte. Werden deshalb gerade die Passagen, auf die es ankommt, so leise und undeutlich gesprochen, oder macht man das heute eben so? Wenn Eilif (Paul Schröder), der ältere Sohn der Courage, das Lied vom Weib und den Soldaten singt und dabei gymnastische Übungen macht, erinnert sich der Leser (oder frühere Zuschauer im Berliner Ensemble): ach ja, ein Kriegstanz mit Säbel – den es hier im Thalia nicht gibt. Und wer noch weiß, wie Helene Weigel die Mutter Courage spielte, möchte lieber wieder gehen.

 

Für alles muss die Pantomime herhalten. Die Courage, deren Geschäft der Marketenderwagen ist, was macht sie ohne das Gefährt? Immerhin, die roten Stöckelschuhe der Yvette Portier (Victoria Trauttmansdorff) stehen real fast immer präsent auf der Bühne. Diese Schuhe sind die Metapher für Geld, Gewinn, das Erstrebenswerte. Kattrin (Lisa Hagmeister), die stumme Tochter der Courage, probiert sie heimlich an. Ihre Träume bleiben ein Geheimnis.

 

Warum wurde »Mutter Courage und ihre Kinder« ausgewählt, die Hamburger Lessingtage 2017 zu eröffnen? Das Lutherjahr? Der Feldprediger (Matthias Leja) drückt es so aus: »Es ist ein Glaubenskrieg. Kein gewöhnlicher, sondern ein besonderer, wo für den Glauben geführt wird und also Gott wohlgefällig.« Die evangelische Fahne muss gewechselt werden, wenn die »Katholischen« zu siegen scheinen. Der Chor singt vom Töten, von Gott, friedliche Choräle. Der Planwagen – den es hier nicht gibt – soll verpfändet werden, um den jüngeren Sohn, Schweizer Kas (Julian Greis), vor dem Feldgericht zu bewahren. Er, der Naive, Redliche, der Zahlmeister wurde, will die Regimentskasse retten. Er wird überfallen. Die Courage braucht Lösegeld, denn: »Solange es die Bestechlichkeit gibt«… kann »sogar der Unschuldige« durchkommen vor Gericht. Weil die Courage zu lange feilschte wird ihr Sohn erschossen. Sie verleugnet, dass sie ihn kennt. Dann fällt sie um und steht sofort wieder auf, mit zitternden Händen. Bei Brecht setzt sie sich nur hin. Nun, es gibt ja keine Stühle auf der Bühne. Dafür kommt der Chor und singt von »Herrlichkeit«. Die Leiche wird nach vorn über die Bühne gezogen. Kattrin hat sich neben den Chor gestellt, im schwarzen Kleid, ein Misston neben den Lichtgestalten. Sie greift sich an den Mund, bedeckt ihr Gesicht, verzweifelt. Ein Lob für Lisa Hagmeister, die mit Gesten mehr ausdrücken kann, als die schwer hörbaren Stimmen der Sprechenden.

 

Neue Szene, wenn man’s erkennt. Hier gibt es nicht den Brecht-Vorhang, auf dem angezeigt wird, was nun geschehen wird. Die Courage kommt brüllend: »Ich beschwer mich, ich beschwer mich!« und schiebt die Menschen auf der Bühne alle weg, einzeln. Doch mehr als ein Bühnenbild: Flüchtlinge? Nein, natürlich denkt sie an ihren Sohn. Ein junger Soldat randaliert, will sich auch beschweren beim Rittmeister. Seine Geduld, die Ungerechtigkeit ertragen zu können, reicht nicht lang. Wenn der Rittmeister kommt, sitzt er schon auf dem Boden. Die Courage setzt sich dazu. Ein Paar, vereint im Sich-Ergeben. Das Lied von der großen Kapitulation folgt.

 

Eine neue Szene. Der Feldprediger braucht Leinen, um Blutende zu verbinden. Mutter Courage knausert mit ihren Offiziershemden. Ruft: »Ich, ich, ich! Ich gib nix. Die zahlen nicht, warum, die haben nix.« Kattrin kommt mit einem Säugling aus dem zerstörten Haus. Ein stiller Kampf zwischen Mutter und Tochter beginnt. Die Courage legt sich über Kattrin wie eine Glucke, dreht sich zum Publikum: »Glotzt nicht.« Brecht hat diese Szene gestrichen. Die »Mutter Courage« wurde 1941 in Zürich uraufgeführt, die große Therese Giehse spielte die Hauptrolle, sicher anders als Helene Weigel später. Die bürgerliche Presse schrieb über das Stück von der »erschütternden Lebenskraft des Muttertiers«. So missverstanden, änderte Brecht den Text später für die deutsche Aufführung in Berlin. Er wollte zeigen, dass »die großen Geschäfte in den Kriegen nicht von den kleinen Leuten gemacht werden«. Doch das »merkantile Wesen des Kriegs, das ist gerade, was sie anzieht. Sie glaubt an den Krieg bis zuletzt.« Brecht kam es darauf an, dass die Zuschauer sehend werden. Dieses »glotzt nicht« ist aus der verworfenen Zürcher Fassung entnommen, dazu passt diese gluckenhafte Muttertier-Geste. Sehen – nicht glotzen – erkennen.

 

Als Kattrin später, aus der Stadt mit Einkäufen zurück, überfallen wird, im Gesicht verwundet, verunstaltet, hat die Courage Trost bereit: die roten Schuhe. Und den Satz: »Der Krieg geht noch ein bissel weiter und wir machen noch ein bissel Geld, da wird der Frieden umso schöner.« Und so ganz nebenbei, fast als schäme sie sich, sagt die Courage: »Der Krieg soll verflucht sein.«

 

Dann wieder ganz anders, die Courage oben auf dem Klavier, schreiend: »Ich lass mir von euch den Krieg nicht madig machen«, und singt »… der Krieg ist nix als Geschäfte / und statt mit Käse ists mit Blei.« Dieser Song erinnert sehr fern an Helene Weigel – die Gabriela Maria Schmeide ganz ausblendete. Rollenvorgänger, so bekannte sie, interessieren sie nicht.

 

Der Koch (André Szymanski) erbt einen kleinen Gasthof in Utrecht, wohin er die Courage mitnehmen will. Aber nur ohne Kattrin. Die Behinderte stört. Die Mutter entscheidet sich für ihr Kind – und den Wagen. Eine Straftat ist jetzt, was früher belobigt wurde. Das muss Eilif verbittert erfahren. Er hatte doch nur bei Bauern eingebrochen, Vieh geraubt – auch getötet. Gefesselt erscheint er, doch seine Mutter ist nicht da. Sie wird ihn nie wieder sehen, doch immer auf sein Kommen hoffen. Er wird sterben wie auch seine Schwester Kattrin. Sie hilft Bauersleuten, die von Soldaten bedrängt werden, sie betet mit ihnen, ohne Worte. Sie will die Kinder in der Stadt Halle retten, steigt aufs Dach und trommelt, um die Bewohner zu wecken. So bei Brecht. Im Thalia Theater gibt es keine Trommel. Der ganze Boden wird zum Instrument. Kattrin stampft auf die Erde, alles bebt, zittert. Virtuos wie in einer Jazzband. Eine glänzende Idee, aber Kattrin will warnen, aufwecken, das schlafende Volk. Die Stadt erwacht rechtzeitig, Kattrin wird erschossen. In einer frühen Rezension trommelt sie aus »Verzweiflung und Hilflosigkeit« über den Krieg allgemein. Bei Brecht ist es eine – erfolgreiche – Widerstandshandlung der Schwächsten von allen.

 

Begeistert klatschte am Ende das Hamburger Premierenpublikum. Kein Buh für den Regisseur.