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Harry Gmür alias Stefan Miller  (Mario König)

Der schweizerische Großbürgersohn Harry Gmür (1908–1979) wandte sich früh politisch nach links, Ende der 1930er Jahre wurde er Kommunist. Später ließen Kalter Krieg und Antikommunismus seine Hoffnungen scheitern und drängten ihn in eine tiefe politische und persönliche Krise. Noch heute bemerkenswert ist die von ihm 1937/38 herausgegebene Wochenzeitung ABC, ein antifaschistisches Forum linker Schweizer Autoren und deutscher Emigranten. Ab 1958 bot ihm die Weltbühne in Ost-Berlin eine neue Publikationsmöglichkeit. Als »Schweizer Afrikakenner Stefan Miller« verfaßte er in ihrem Auftrag Hunderte von Reportagen und Kommentaren. In der DDR, wo er nie gelebt hat, war er hoch geschätzt. In der Schweiz war der Autor Gmür vor allem der Polizei bekannt, die ihn jahrzehntelang observierte.

Afrika war Gmürs wichtigstes Thema in den langen Jahren seiner Mitarbeit bei der Weltbühne. Über hundert Artikel und drei seiner fünf Bücher berichten davon. Es war ein anspruchsvolles Unternehmen, angefangen bei den äußeren Beschwerlichkeiten des Reisens über die Erschließung unbekannter politischer und kultureller Welten bis hin zu unerwarteten Stolpersteinen, welche Zensur und Außenpolitik der DDR gelegentlich bereithielten.

Dabei erfolgte der Einstieg eher zufällig. Die erste Reise vom Frühjahr 1959 trat er an Stelle des schwer erkrankten Jean Villain an, der ihn empfohlen hatte. Zuerst war nur an eine Reise gedacht. Daß weitere folgten, hing damit zusammen, dass sich Jean Villain 1961 definitiv mit dem Herausgeber Hans Leonard überwarf und als Reisereporter der Weltbühne ausfiel. (Später war er bis zu seinem Tode Ossietzky-Autor.)

Gmürs Reisen stehen in Zusammenhang mit der Außenpolitik der DDR, die ab 1960 Afrika gezielt ins Auge faßte. Dessen junge Staaten boten verlockende Aussichten, der internationalen Isolation zu entkommen, in der die DDR verbannt war. Im Frühjahr 1959 besuchte Gmür Ghana und Guinea, die ersten unabhängigen Staaten Westafrikas. 1962 bereiste er Ostafrika, wo Kenya und Tanganyika (später Tansania) kurz vor der Unabhängigkeit standen, während Nordrhodesien (später Sambia) und Njassaland (später Malawi) noch mitten in schwierigen Konflikten standen. 1964 hielt er sich in Nigeria auf, das, seit 1960 unabhängig, von heftigen Gegensätzen zerrissen war und auf den Bürgerkrieg zusteuerte. 1976 bereiste er noch einmal Guinea, um die Resultate einer nunmehr 18jährigen Unabhängigkeit zu prüfen.

Gmürs Blick auf Afrika ist bestimmt von seinem politischen Denken. Voller Sympathie blickt er auf die afrikanischen Völker und deren Kampf um politische Selbständigkeit und wirtschaftliche Entwicklung. Die anonymen kleinen Leute nicht weniger als die Staatsmänner und Politiker finden seinen Respekt, wo sie nicht den Versuchungen neokolonialer Korrumpierung erliegen. Auch Gmürs frühe Texte aus Afrika waren nicht ganz frei vom kolonialen Blick, dem sich zu entziehen nicht leicht gewesen sein dürfte. »Ein riesiger Neger« figuriert in seiner allerersten Reportage, »entzückende braune Kinder« erfreuen sein Auge ebenso wie die Schönheit farbenprächtig gekleideter Frauen. Dies entstammt einem bereitliegenden Vorrat an Vorstellungen und Begriffen, die ein harmlos-freundliches Bild zeichnen, »das alte, fast kindlich naturnahe Afrika«, von dem auch Gmür im Juli 1959 schwärmt. Den Begriff des »Negers«, damals noch gang und gäbe, verwendet er freilich selten und bald gar nicht mehr. In den folgenden Jahren gewinnen seine Berichte an Sicherheit und Souveränität und lassen klischeehafte Bilder hinter sich. Welten liegen zwischen seinen Texten und der Haltung jenes führenden Kopfes des Schweizerischen Bankvereins, der 1961 dem südafrikanischen Premier Verwoerd umfassende Unterstützung in den Auseinandersetzungen um die Apartheidpolitik anbietet (»for the defence of the white race in your continent«); oder jenem schweizerischen Bundesrat, der 1963 in der außenpolitischen Kommission des Nationalrats lapidar erklärt: »Die Rassen sind nun einmal verschieden, und ihre Entwicklungsmöglichkeiten liegen dementsprechend auf verschiedenen Ebenen […].«

In wenigen Tagen wird in Zürich ein Buch erscheinen, in dem Markus Bürgi und ich über Gmür berichten; es enthält auch Reportagen aus der Weltbühne von Gmürs afrikanischen Reisen:
»Harry Gmür – Bürger, Kommunist, Journalist. Biographie, Reportagen, politische Kommentare«, Chronos Verlag, 320 Seiten, 24 €