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Meldungen aus den letzten Tagen des Krieges  (Ulrich Sander)

Der 19-jährige Wehrmachtsgefreite Willi Herold, mit einer Hauptmannsuniform bekleidet, ist in das mit etwa 3000 Strafgefangenen überbelegte KZ Aschendorfer Moor eingedrungen und übernimmt das »Kommando«. Er und seine kleine, aus versprengten Soldaten gebildete Einheit ermorden in den nächsten Tagen ab dem 11. April Hunderte Gefangene. Einheiten wie diese gibt es Hunderte, viele haben sich als »Standgerichte« formiert und bringen schätzungsweise 8000 »Desserteure« um.

Am 12. April 1945 versammeln sich im fränkischen Bad Windsheim Hunderte Frauen und Kinder auf dem Marktplatz und dringen in die Gefechtsstellungen ein, um eine Kampfgruppe der Wehrmacht zur Aufgabe zu überreden und den Ort kampflos zu übergeben. Die US Army ist schon in Sichtweite. Die Gestapo hält Christine Schmotzer für die Anführerin und erschießt sie.

 

Aus den Nebenlagern des KZ Buchenwald, die im Ruhrgebiet existieren, werden im März 1945 rund 1000 jüdische Frauen nach Bergen-Belsen abgeschoben. Die Stahlindustrie will sich nicht mit ihnen belasten, wenn die Besatzung erfolgt. Im Bergen-Belsen stirbt die Hälfte der Sklavenarbeiter der Krupp, Hoesch und Thyssen, auch der Quandts. Die Täter aus der Wirtschaft werden nie wirklich bestraft.

 

Über das Kriegsende in Krasnodar berichtet F. C. Weiskopf in seiner Anekdotensammlung: Es wurde ein 18-jähriges Mädchen angetroffen, damit beschäftigt, Bücher zum Verleih an Soldaten und zurückkehrende Bewohner zurechtzulegen. Polina Udowenko von der städtischen Bibliothek hatte während der deutschen Besatzung nächtelang und heimlich 20.000 Bücher weggeschafft. Ihr sei bewusst gewesen, dass dies gefährlich war; »aber Bücher seien schließlich Munition, und Munition dürfe dem Feind doch nicht überlassen werden«.

 

Am 13. April 1945 besetzen Briten und US-Amerikaner Dortmund. Sie kommen zu spät; 300 Häftlinge und Zwangsarbeiter sind zuvor von der Gestapo in den Wäldern der Stadt ermordet worden. Die damals zehnjährige Margret Schuppenhauer berichtet: »Die Amerikaner kamen auf der Hermannstraße nach Hörde rein. Die weißen Amis saßen schön in ihren Jeeps, aber die Schwarzen, die mussten draußen mit ihren MPs alles sichern. Da passierte eine Geschichte, über die habe ich mich schwer aufgeregt: Ein Schwarzer gibt mir eine ganze Ration. Das aber sah ein Weißer. Da hat er den vor meinen Augen zusammengeschlagen. Nur weil er mir so viel gegeben hat.« Als sie älter wurde und das Fernsehen kam, sah Margret Schuppenhauer die vielen Bilder von den Auseinandersetzungen der Schwarzen und Weißen in den USA. »Da wusste ich, warum das damals passiert war.«

 

Vom selben Tag an der Hörder Brücke. Die 16-jährige Margret Becker berichtet, sie habe vier Jungen gesehen, die dort an einer Panzersperre die Brücke verteidigen wollten. Sie hatten Stahlhelme auf und Gewehre in der Hand. Dann kamen die Amerikaner, und die Jungen waren verschwunden. Einen Tag später kam die Beobachterin in das einige Kilometer entfernte Berghofen. Sie trifft die vier Jungen, nunmehr ohne Helm und Waffen, dafür in kurzen Hosen. Nachdem sie in Gefangenschaft geraten waren, seien am anderen Morgen ein Offizier und ein Dolmetscher gekommen, »die haben uns die Hosenbeine abgeschnitten« und gesagt: »Mit Kindern führen wir keinen Krieg. Hier habt ihr eine Tafel Schokolade, und geht schnell nach Hause.«

 

Das Internationale Rombergparkkomitee und die Dortmunder VVN-BdA haben über das Kriegsende ihr Buch »Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei Kriegsende« in einer erweiterten Ausgabe neu herausgegeben. Aus Dortmund berichtete im April 1995 die Geschichtswerkstadt im Band »Die Zusammenbruchsgesellschaft – Kriegs- und Trümmerzeit in Dortmund in Berichten und Dokumenten«. Die vorstehenden Meldungen stammen aus diesen Büchern. Und auch diese:

Als die US-Amerikaner am 4. April 1945 Ohrdruf erreichen, finden sie eine nicht bezifferte ungeheure Zahl von verbrannten Körpern und einige Überlebende. Wenige Tage später besucht der damalige Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower das Ohrdrufer KZ. Er schrieb darüber: »Die Dinge, die ich sah, spotteten jeder Beschreibung. Die sichtbaren Beweise und Zeugenaussagen über Hunger, Grausamkeit und Bestialität waren überwältigend. Ich habe diesen Besuch in der Absicht gemacht, als Augenzeuge berichten zu können, wenn es in Zukunft einen Versuch geben sollte, diese Dinge als Propaganda abzutun.« Vor den Bewohnern von Ohrdruf hielt ein Oberst der US Army eine Rede: »Hier sehen Sie, warum wir nicht Ihre Freunde sein können!«

 

Heute wissen wir: Die Erinnerungsarbeit der Opferverbände, auch der VVN, setzte früh ein, jene der Behörden und Bildungseinrichtungen sehr spät. So war es in der BRD. In beiden deutschen Staaten blieb die Mitschuld der kleinen Leute zumeist unbeachtet. In der Erinnerungsarbeit an die Todesmärsche lag allerdings die DDR vorn, das geht aus den Büchern zu den letzten Kriegsmonaten hervor. Betont wurde in der DDR die Rolle der helfenden Antifaschisten – wenn es sie gab. Freie Deutsche Jugend und Junge Pioniere, ganze Schulen, gingen den Weg der Todesmärsche nach, legten Blumen nieder, wo der Staat Gedenksteine errichtet hatte. Sie schrieben Gedenkbücher und sprachen mit jenen, die nun alt waren, in ihrer Jugend aber Solidarität organisierten. Das gehört auch zum Thema »verordneter Antifaschismus«. Allerdings war bisher unbekannt geblieben, in beiden deutschen Staaten, dass es die Mitschuld vieler »guter« Deutscher an den Kriegsverbrechen gab. Es lag die Furcht vor dem vor, was ein Wilhelm Brinkmann aus Dortmund-Aplerbeck geschrieben hat. Er berichtete seiner Frau im April 1944 von der »Partisanenjagd« und vom Verschleppen von Zivilisten. »Ich habe viel Elend und manche Träne gesehen. Wenn der Krieg verloren gehen sollte, dann sehe ich sehr schwarz, denn die anderen machen es ebenso.«

 

Egon Krenz, der ehemalige Pionier- und FDJ-Vorsitzende, resümierte: »Die Todesmärsche spielten in der Pflege der antifaschistischen Traditionen der DDR eine sehr große Rolle. Die FDJ und ihre Pionierorganisation haben da viele und vielfältige Ideen verwirklicht.« Viele Gedenksteine am Weg der damaligen Todesmärsche zeugen davon. Inzwischen gibt es sie auch in vielen westdeutschen Gemeinden.

 

Die Anzahl der auf den Todesmärschen und bei den zahlreichen weiteren Kriegsendverbrechen zu Tode gekommenen Menschen ist nicht bekannt. Die Schätzungen dazu bewegen sich weit auseinander.

 

Am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, am 27. Januar 2005, führte Arno Lustiger im Deutschen Bundestag aus: »Zwischen November 1944 und Mai 1945 wurden etwa 700.000 Häftlinge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räumung und Liquidierung der KZs in Polen und Deutschland, auf etwa hundert Todesmärsche durch ganz Deutschland getrieben. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte von ihnen umgekommen ist. Sie wurden erschossen, in Scheunen verbrannt, sind verhungert oder an Seuchen verstorben. Bis heute gibt es keine Gesamtdarstellung dieser sich auf Deutschlands Straßen abspielenden tausendfachen Tragödien, dieser letzten Konvulsionen des untergehenden Dritten Reiches. Ich hoffe sehr, dass die Forschung sich dieses Themas jetzt annehmen wird«. Das ist seitens der Forschung geschehen, allerdings noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen.

 

 

Leseempfehlung: Ulrich Sander: »Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende 1945«, Neue Kleine Bibliothek 129, PapyRossa Verlag, 2., erweiterte Auflage, 282 Seiten, 16,90 €