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Titel112013

Bemerkungen

Mittäterschaft
In Cumberland, einer kleinen Ortschaft im USA-Staat Kentucky, hat ein fünfjähriger Knabe seine zwei Jahre alte Schwester mit einem Gewehr erschossen. Für die Tat bedurfte es verschiedener Vorleistungen: Es mußte – erstens – eine Fabrik geben, in der das Instrument für Kinderhand hergestellt wurde, denn aus einem so beschaffenen Gerät wurde der tödliche Schuß abgegeben. Mithin waren da ein oder mehrere Eigen-tümer, die mit dieser Ware ihr Geschäft betreiben, also Profit machen. Dazu gehört –zweitens – eine Belegschaft, vom Konstrukteur bis zum Arbeiter im Versand, die ihre »Mitwirkung« nicht anstößig findet. Beteiligt sind – drittens – Händler, die diese Ware kaufen und verkaufen und daraus ihren Gewinn ziehen. Geschehen kann das alles nur, weil – viertens – Produktion, Handel und Verkauf solcher Waffen legal, also vom Staat erlaubt sind. Und schließlich und unerläßlich – fünftens – setzte die Tötung Eltern voraus, die das Warenangebot akzeptierten, ihr Kind mit einer Waffe beschenkten und es – womöglich – in deren Handhabung unterwiesen, jedoch nicht einmal oder nicht mit Erfolg mit deren Gebrauch vertraut machten.

Was die Agenturen meldeten, die Sprecher der Nachrichten im Fernsehen mit traurig-trauernden Gesichtern und belegter Stimme bekanntgaben und unkommentiert ließen, geschah in einem fernen Land. Indessen, bis dahin sollte schon weitergedacht werden: Es ereignete sich in unserer und nicht in einer fremden Gesellschaft. Die unter dem Sternenbanner ist ihrer hierzulande existierenden Ausprägung ein wenig voraus. Doch das werden wir noch kriegen, so sicher wie einst Lucky Strike und Coca-Cola. Ausgenommen den unwahrscheinlichen Fall, daß sich dagegen Kräfte regen, zahlreich und rechtzeitig.

Kurt Pätzold


Patriot Schröder
Der Print-Spiegel muß sich ranhalten, auf Dauer kann er nicht von seinem einstigen Marktwert zehren. Nun gelang es ihm, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zu einem gemeinsamen Interview zusammenzuholen, die beiden sollten sich zur einhundertfünfzigjährigen Geschichte ihrer Partei äußern. Ganz offensichtlich machte ihnen das wenig Spaß, sie wollten die Plauderei rasch hinter sich bringen, es gibt Interessanteres in der Welt, man denke nur an die chinesische Wirtschaft oder an russische Ressourcen. Selbst ein Abstecher in die sozialdemokratische Gegenwart munterte die Elder Statesmen nicht auf, ihnen fiel nur ein, die Bundestagswahl sei noch nicht gelaufen – was dem »Deutschen Nachrichten-Magazin« freilich schon bekannt war. Und daß Schmidt von seiner Sympathie für die NATO-»Nachrüstung«, Schröder von seinem Stolz auf die Agenda 2010 nicht abläßt, kann niemanden überraschen. Aber dann kam doch ein Statement, das Aufmerksamkeit verdient. Nach möglichen historischen Irrtümern der SPD fragten die Spiegel-Leute und brachten das Stichwort »1914 – die Kriegskredite« ins Gespräch. Da wurde Schröder grundsätzlich. Wieso denn auch ausgerechnet hier eine Fehlersuche – die SPD sei stets »patriotisch im besten Sinne des Wortes« gewesen, sprach er, »erst das Land, dann die Partei«. Und Schmidt, etwas skeptischer, kam argumentativ zur Hilfe durch die Bemerkung, »die Arbeiterbewegung« sei doch prinzipiell für »Vaterlandsverteidigung« gewesen. Wenn das der Kaiser, der zweite Wilhelm, noch erlebt hätte – im Jahre 2013 steht ein gelernter Jungsozialist und dann Kanzler, nun in der Großwirtschaft tätig, gedanklich in Treue fest zum alten Deutschen Reich, so wie es war, den Waffengang nicht scheuend.
A. K.


Gerd Deumlich
Der am 23. April 84jährig gestorbene Gerd Deumlich war als junger Mann Redakteur der Zeitschrift Junges Deutschland. Dort erhob der Sohn eines im KZ Esterwegen gequälten Widerstandskämpfers entschiedenen Widerspruch gegen die kapitalistische Restauration und die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland. Die von ehemaligen Nazi-Richtern dominierte Justiz sah in solchem Engagement eine Straftat: Fortführung der Politik der von der Adenauer-Regierung verbotenen Freien Deutschen Jugend, die aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangen war, und verurteilte ihn deswegen zu zweieinhalb Jahren Haft. Ungebeugt wurde er später Redakteur der Marxistischen Blätter, einer sechsmal jährlich erscheinenden allgemeinverständlichen Zeitschrift von hohem Niveau. Das jüngste Heft enthält eine eindringliche, wohlbegründete Warnung Gerd Deumlichs vor weiteren imperialistischen Kriegen sowie einen Appell zur Verschrottung aller Atomwaffen und Atomreaktoren. Vorn auf dem Heft prangt eine 50. Ein stolzes Jubiläum der Zeitschrift. Ich wünsche ihr, daß es ihr auch ohne Deumlich, der sie umsichtig geleitet hat, gelingen wird, sich und ihr Niveau zu halten.
E.S.


Keine Entrüstung
Alles friedlich, freute sich der Berichterstatter der Süddeutschen über den Auftritt des deutschen Militärministers beim 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Im Blick hatte er nicht die Tätigkeiten der Bundeswehr, sondern die Reaktionen des Publikums auf die Botschaften Thomas de Maizières zu den Auslandseinsätzen deutscher Truppen und zur Anschaffung von Kampfdrohnen. Ein paar rüstungskritische Plakate, aber keine Proteste, nicht einmal Buhrufe. Der Minister ist ja auch Mitglied des Präsidiums dieser Veranstaltung, er gehört dazu, Protestanten protestieren nicht gegen Protestanten. Und der evangelische Militärbischof Martin Dutzmann hatte zuvor schon verkündet, zwischen Kampfflugzeugen und Kampfdrohnen sei ein »Qualitätsunterschied« nicht zu erkennen, ethisch betrachtet. So richtig ökumenisch geht es da nicht zu, denn sein katholischer Kollege Franz-Josef Overbeck hatte vor einer drohnigen »Beliebigkeit des Tötens« gewarnt. Die »Ideologisierung des Kirchentags« sei »ein gutes Stück zurückgefahren«, kommentierte der Autor der Süddeutschen. Werden demnächst die ferngesteuerten Mordmaschinen ein kirchliches Gütesiegel bekommen, ganz unideologisch, »Gott mit uns«?
A. K.


Duldung wird nicht geduldet
»Die SPD wird keine Koalition mit der Linkspartei bilden« (ja, das wissen wir schon) »und sich nicht einmal von ihr dulden lassen« – sagte der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten. Offenbar meint Steinbrück nicht, daß er die PDL dazu bringen will, die Existenz der SPD nicht länger hinzunehmen, sondern er hat die Bestellung des Kanzlers und die Regierungsbildung nach den Bundestagswahlen im Blick, eine Situation also, wo die Abgeordneten der Linkspartei auf die Idee kommen könnten, durch Stimmenthaltung einem Sozialdemokraten ins Amt des Regierungschefs zu verhelfen. Aber wie läßt sich eine Nichtduldung solchen Duldens praktizieren? Die Volksvertreter sind bekanntlich an Weisungen nicht gebunden, auch dann nicht, wenn Steinbrück sie geben würde, der überdies für die Linkspartei eigentlich nicht zuständig ist. Da bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen PDLer, wenn sie Mandate für den Bundestag erhalten, an deren Ausübung gehindert werden. Oder die SPD bringt gar keinen Kanzlervorschlag in den neuen Bundestag ein. Das wäre die einfachste Lösung des Problems.
M. W.


Massenhaft angeklickt
Jetzt ist es geschafft. Hunderttausende hören sich Peer an, auf Youtube und in anderen Internetangeboten. Nicht um etwas über die Regierungsabsichten des SPD-Kanzlerkandidaten zu erfahren, sondern wegen eines Spruches, den Steinbrück sich ausgeliehen hat: »Hätte, hätte, Fahrradkette«. Den brachte er als Antwort auf die Frage eines Journalisten, weshalb denn die SPD-Werbemanager nicht bemerkt hätten, daß der Wahlslogan »Das WIR entscheidet« schon längst bei einer Leiharbeiterfirma in Gebrauch ist. Woher hat Steinbrück den Fahrradkettenspruch? In der elektronischen Debatte darüber gibt es eine plausible Erklärung: Peer ist Stromberg-Fan, Konsument dieser Comedy-Serie, die sich über den Büroalltag in der Abteilung Schadensbegrenzung einer Versicherungsfirma lustig macht. Da sind derlei Redensarten in Fülle zu finden, auch solche wie »Die Leute hier, die würden sogar im Schlaraffenland zum Betriebsrat rennen.« Den Aufmerksamkeitserfolg, den Steinbrück verbuchen kann, hat er allerdings der ARD zu verdanken – die brachte eine filmische Parodie zum Thema »Hätte, hätte ... und die SPD«, in den Hauptrollen treten der Kanzlerkandidat, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier auf, siehe Youtube. Ob das der SPD WählerInnen bringt?

Im Stromberg-Slang formuliert: Bumms, aus, Nikolaus.
Peter Söhren


Max Stadler
Wenn die FDP nach der Wahl im September nicht mehr mitregiert, dann, so hatten wir gedacht, bitten wir Max Stadler wieder um seine Mitarbeit. Regieren und für Ossietzky schreiben ist unserer Meinung nach schwerlich vereinbar. Das wollten wir dem Parlamentarischen Staatssekretär im Justizministerium gar nicht zumuten. In rot-grünen Zeiten hatte Stadler wiederholt in diesem Blatt rechtspolitische Fragen kenntnisreich behandelt, aber auch einmal eine Lobrede auf seine Bundestagskollegin Ulla Jelpke (Fraktion Die Linke) beigesteuert. Ein freier Geist, den Grundrechten verpflichtet. Wirtschafts- und militärpolitisch gehörte er immerhin nicht zu den Scharfmachern in seiner Partei. Im schwarzen Niederbayern – in Passau war er auch kommunalpolitisch engagiert – wirkte er als Linker.
Wir haben einen guten Autor und freundlichen Gesprächspartner verloren.
Red.


Wieder im Licht
Der Umfang und die Fülle des Präsentierten sprengt geradezu die intime Räumlichkeit der kleinen Galerie, die bis Ende Mai Malerei und Grafik von acht vergessenen Künstlerinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellt. Gegen Vorurteile und Klischees hatten sie ausnahmslos alle anzukämpfen: die Rostockerin Kate Diehn-Bitt, die nach dem Krieg noch auf den ersten großen Dresdener Kunstausstellungen vertreten war, Oda Hardt-Rösler, die noch bis ins hohe Alter gemalt und gezeichnet hat, Hedwig Woermann, Tochter eines Hamburger Reeders, in ihrer Jugend unterrichtet von Fitz Mackensen in Worpswede und befreundet mit Rainer Maria Rilke. Besonders bitter gestaltete sich der Weg von Käthe Loewenthal und Julie Wolfthorn, deren Leben der faschistische Rassenwahn beendete. Von den Bildern dieser Malerinnen geht ein unmittelbarer starker Reiz aus, etwa einem Ölgemälde des Belle Aliance-Platzes von Lene Schneider-Kainer (sie starb 1971 in Bolivien) oder einem Selbstporträt von Augusta von Zitzewitz, über die nach 1933 Ausstellungs- und Berufsverbot verhängt wurde. Eines der bewegendsten Bilder der Ausstellung stammt von Käthe Münzer-Neumann, die die deutsche Besetzung Frankreichs im Untergrund überlebte und hier ihr ausdrucksstarkes Mutter-Kind-Bildnis schuf. Den zahlreichen Leihgebern gebührt für diese bemerkenswerte Ausstellung großer Dank, nicht zuletzt auch Ilse-Maria Dorfstecher, Gabriela Ivan und Sabine Krusen, die mit ihren umfangreichen Recherchen zu Leben und Werk der Ausgestellten Pionierarbeit geleistet haben.
Dieter Götze

Bis 25.5., Inselgalerie, Torstr. 207, Berlin, Infos, auch zu Begleitveranstaltungen, s. www.inselgalerie-berlin.de


Auf die Stiefel gespuckt
»Wir lassen nicht zu, daß den Amerikanern hier unwidersprochen auf die Stiefel gespuckt wird.« So antwortete im März 1968 der Westberliner Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) auf die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Im gleichen Sinne hatte sein Vorgänger Willy Brandt in einem Brief an den US-amerikanischen Stadtkommandanten behauptet, die »überwiegende Mehrheit der Berliner« sei »nicht gewillt, das Ansehen dieser Stadt durch unverantwortliche Minderheiten in Gefahr bringen zu lassen«. Er empörte sich: »Schande über Berlin bringen solche Gruppen, die das Vertrauen zu den Siegermächten zerstören wollen und die deutsch-amerikanische Freundschaft besudeln.« Und in einer Senatssitzung sagte er, die Studenten dürften sich nicht wundern, wenn sie »von den Berlinern wie Kommunisten behandelt« würden. Jahrzehnte danach beteuerte Bundeskanzler Gerd Schröder der USA »uneingeschränkte Solidarität« – nicht mehr in Vietnam, sondern in Afghanistan. Seitdem kamen weitere Kriegsschauplätze hinzu.

Was alles schon mal dagewesen ist, erfährt man auch aus einem Buch des Journalisten Hellmut Kapfenberger, der etliche Jahre als Korrespondent des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes in Vietnam gearbeitet und über den millionenfachen Mord am vietnamesischen Volk berichtet hat. Er würdigt nicht nur die gewaltigen Leistungen der vietnamesischen Befreiungsbewegung, sondern auch die am Sieg über die mächtige USA beteiligte internationale Solidarität. Die DDR hat dazu viel beigetragen. Aber Kapfenberger kennt auch die vielfältigen Initiativen in der BRD, zum Beispiel die von Martin Niemöller, Heinz Kloppenburg, Walter Fabian sowie meistens unerwähnt bleibenden Kommunisten gegründete Hilfsaktion Vietnam, die Hilfsgüter im Wert von mehr als 150 Millionen Mark in das geschundene Land geschickt hat. Die staatlichen Hilfeleistungen, die Brandt, inzwischen Bundeskanzler, bei Kriegsende ankündigte, unterblieben. Und ein Hauch von Sehnsucht kommt angesichts der Listen fast aller namhaften Schriftsteller auf, die sich damals engagierten.

Ein lehrreiches Buch.
Eckart Spoo

Hellmut Kapfenberger: »Berlin, Bonn, Saigon, Hanoi – Zur Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen«, Verlag Wiljo Heinen, 506 Seiten, 19,80 €


Heute: Kohlhaas
Politisches Theater für Heranwachsende – geht das? Aber ja doch! Und wie? Das Agora-Theater aus St. Vith, im deutschsprachigen Randgebiet Belgiens, macht es vor (in Kooperation mit dem Theater Marabu, Bonn; Regie: Claus Overkamp). Zu sehen war es jüngst bei »Augenblick mal!«, dem Festival für deutsche Kinder- und Jugendtheater, das alle zwei Jahre in Berlin stattfindet.

Kleists altbekannte Kohlhaas-Novelle, die schon öfter das Licht der Bühne erblickte, dient als Spielvorlage: Eine schräge Gauklertruppe hat sich ihrer bemächtigt und läßt nichts aus. Das Spektakel ist wild und opulent, Feuerschlucker, Einradfahrer, virtuose Musik von Zerrwänsten und Trommeln ... Und Clowns! Fünf Darsteller ziehen alle Register von Schauspielkunst, Artistik und Musikanterei. Aber immer wieder bricht das Geschehen herunter in den bittersten Ernst, stürzt ab in unendliche Trauer. Ein Schaukelpferd stellt zu unser aller größtem Vergnügen des Kohlhaas stolzes Rosse-Gespann dar – der Stofftierleib wird schließlich zerfetzt, die Sieger posieren, und den Zuschauern bleibt das Gelächter im Halse stecken. Bunte Kasperpuppen fliegen durch die Lüfte – erscheinen dann als Opfer einer Schlacht, gar nicht mehr lustig. Und Gedichte von Erich Mühsam, klug dem Kleist implantiert, verstärken den tiefen Eindruck, den diese alte Geschichte von Ungerechtigkeit, Repression und Rebellion auf die Zuschauer aller Altersgruppen macht, lassen sie mit dem Helden fühlen und atmen. Die Aufführung bleibt nicht da unten, in den Niederungen der Trauer und Verzweiflung – sie arbeitet sich wieder hinauf zu rebellischer, nein: revolutionärer Wut. Nicht nur, daß wir, die Zuschauer, nach dem Prinzip »Haut den Lukas!« mit (nachgemachten) Steinen nach den Unterdrückern schmeißen dürfen – es wird getrommelt! Und wie! Gleich findet die Revolution im Saale statt, besser: Darsteller und Zuschauer rennen Seit’ an Seit’ hinaus, zur nächsten Barrikade! Aber dann geht das Licht aus, Stromausfall (inszeniert selbstverständlich) – gut so, vielleicht steht ja wirklich vorm Podewil in Berlin Mitte noch gar keine Barrikade ...

Theater jenseits von Selbstdarstellerei und albern behaupteter Avantgarde – Theater der Zukunft.
Gerd Bedszent

Das Agora-Theater gastiert mit »Heute: Kohlhaas« vom 28. Mai bis 2. Juni bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Weitere Termine siehe
www.agora-theater.net.


Walter Kaufmanns Lektüre
»Drei Schritte nach Rußland« – das Buch hält weit mehr als die vier Worte ahnen lassen. Irina Liebmanns Beschreibungen von Moskaureisen, Reisen nach Kasan und ins Ländliche unweit Moskaus geben die Empfindungen einer Frau wieder, die in der Sowjetunion ihre Kindheit verlebte, deren Muttersprache Russisch war, das in ihren späteren deutschen Jahren nicht verblaßte, wie auch die Erinnerung an die Bräuche nicht, an das von ihr erfahrene, durchlebte russische Leben. Die Ortschaften, die sie vor und nach der Jahrhundertwende besucht, umfaßten ihre Heimat, dort war sie verankert, war sie Kind wie andere Kinder, Tochter zwar eines deutschen Kommunisten, aber auch ganz die Tochter einer russischen Mutter, ganz Enkelkind, Nichte, Jungpionier – kurz, ein Mädchen im Sowjetland. Was Wunder, daß Sie einen sehr besonderer, sehr eigenen Blick auf das Leben im heutigen Rußland hat – sie auf die Hoffnungen und neuen Ausrichtungen der Menschen weitaus differenzierter zu reagieren vermag als jeder für das jetzige Rußland noch so aufgeschlossene Fremde.

Wunderbar sinnlich ist Irina Liebmanns Blick auf die Welt, subjektiv und gerade darum seherisch. Und setzt sie sich nicht mit den ihr vertrauten Menschen auf eine Weise auseinander, die deren – bewußt sei das allzu pathetische Wort gebraucht – Seele offenbart? Einem wie mir, der in den fünfziger Jahren die im Buch beschriebenen Orte hat bereisen dürfen, tat sich eine Welt von Vergleichsmöglichkeiten auf – in weit größerem Maß geschah das der Autorin im Hier und Heute vor Ort. Aber auch jenen, oder gerade jenen, die nie die Sowjetunion, nie das gegenwärtige Rußland bereisten, sei das Buch empfohlen – »Drei Schritte nach Rußland«. Schön, wenn auch fast zu bescheiden der Titel für ein Buch, in dem das Herz Rußlands schlägt – man hört es, fühlt es, spürt es in jeder Zeile.

Walter Kaufmann
Irina Liebmann: »Drei Schritte nach Rußland«, Berlin Verlag, 200 S., 16,99€


Liebe neu entdecken
Der Film eines Sohnes (David Sieveking) über seine an Alzheimer erkrankte Mutter ist besonders, nicht wegen der Schilderung der Alzheimer-Symptome, sondern wegen der Darstellung des familiär-schützenden Beziehungsgeflechts, das hier indirekt die Hauptperson aufschimmern läßt.

Wir lernen sie als erkrankte Frau kennen, die ihre Wohnung bereits nicht mehr erkennt und ihren Sohn mit ihrem Mann verwechselt. Doch je mehr wir mit dem Sohn zusammen in die zahllosen Alltäglichkeiten der Mutter Einlaß finden, desto näher kommen uns ihr Leben und die ganze Person, fast als wären wir mit ihr befreundet gewesen. Beinahe noch stärker als in »Liebe« von Michael Haneke wird in »Vergiss mein nicht« die mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeladene Welt zweier Beziehungspartner in den 1968er Jahren nachgezeichnet – des Vaters und der Mutter, die sich eine andere, bessere Welt gewünscht haben und dafür vielfach tätig waren. In einem Prozeß der Veränderung begreift der Ehemann, was seine Frau im »Projekt Familie« alles geleistet hat, ohne daß er es seinerzeit hatte würdigen können.

Im Film begleiten wir Mutter und Sohn auf eine Reise, die der oft im Dämmerschlaf liegenden Frau neuen Auftrieb gibt und dem Sohn die Vergangenheit der Mutter, einer einst überaus aktiven, bewußt lebenden Frau, nahebringt. Gleichzeitig formt sich das Bild der Persönlichkeit des Vaters. Die Liebe wächst mit der Wahrheit, das ist die Botschaft, die hier keineswegs kitschig, wie es das Filmplakat suggeriert, transportiert wird.

Ein Film, der von den Erinnerungen lebt und den Weg der Hauptperson ungeheuer wertschätzend nachzeichnet.

Das beobachtende Film-Ich, der Sohn, ist zunächst überaus ahnungslos, wächst dann aber in seine Aufgabe ganzheitlicher Betrachtung hinein. »Vergiss mein nicht« reiht Einzelheiten aneinander und formt daraus ein wunderbares Porträt – ein leiser Film, ein bescheidener Film.

Am Ende sind wir um eine Freundschaft reicher und haben etwas über unsere jüngste Zeitgeschichte gelernt. Und obgleich der Film so leicht erscheint, so fröhlich, liebe-, ja humorvoll, so wirkt er doch nach und läßt uns Tage nicht los. Unbedingt reingehen!
Anja Röhl

»Vergiss mein nicht«, Buch und Regie David Sieveking, Produktion Lichtblick Media GmbH, Lichtblick Film- und Fernsehproduktion GmbH Produzenten, 88 Minuten


Kein Ende in Sicht
Bitte folgen Sie mir in ein Dorf im Innern eines namenlosen Landes. Wie aus der Zeit gefallen liegt es da in der Abenddämmerung. Aus den Schornsteinen der kleinen strohgedeckten Holzhäuser steigt Rauch. An die nahen Weiden grenzen Kornfelder. Das Getreide steht hoch, die Halme scheinen sich nur noch mit Mühe unter ihrer Last aufrecht zu halten. Es ist Erntezeit.

Schon die Vorfahren wußten: Die Ähren sind wie das Glück. Wenn aber das Glück zu groß wird, wird es zu einem Leid. Sie werden recht behalten. Das Unheil ist schon angekommen, die Zerstörung der dörflichen Ordnung in seinem Gefolge.

Auf der Wiese am Rand des Tannenwaldes zieht sich an diesem Abend eine dunkle gewundene Linie durch das Gras, ähnlich einer Schlange.

Ein Seil, nichts weiter, denkt der Finder. Ein tödlicher Irrtum. Solch ein Seil, dick wie ein Bauerndaumen, fest geflochten, halt ein gutes Stück, besitzt niemand im Dorf. Aber wem konnte es gehören? Und wo kam es her? Und wo ging es hin? Denn das Seil, das stellen sechs oder sieben Männer am nächsten Morgen fest, führt immer tiefer in den Wald hinein und nirgendwo heraus. Kein Ende in Sicht.

Um das Rätsel zu lösen, verabschieden sich in der Frühe des zweiten Tages fast alle Männer, über ein Dutzend, von Haus und Hof, von Weib und Kind, lassen die Ernte Ernte sein, brechen auf, Beutel voller Proviant um die Schultern, Hirschfänger und lederne Wasserschläuche an den Hüften.

Und ziehen hinaus, nein nicht mit wehenden Fahnen wie anno 1914 oder davor und danach, sie wollen auch nicht erst nach erfolgreichen Schlachten, pardon: erfolgreicher Suche wieder zurück sein, sondern schon am Abend, so oder so. Aber je länger die Männer gehen, desto stärker wird die Wirkung, welche das Seil auf sie ausübt.

Schon bald denken sie nicht mehr, sondern marschieren nur noch. Der Sog ist zu stark: Waren sie nicht gerade dabei, »etwas zu erleben, das in der Geschichte des Dorfes niemals da gewesen war und über alles Verstehbare hinausschoß«?

Auch einen Führer gibt es jetzt, einen eloquenten Lehrer mit Klumpfuß, einer Flöte für Rattenfängermelodien und Hunden, die Thor und Hetzer heißen: »Männer! Wir stehen vor einem großen Geheimnis: Jeder von uns spürt, daß es mit dem Seil eine tiefe, wunderbare Bewandtnis hat.« Kehrt zu machen wäre töricht. »Laßt uns weitermarschieren.«

Hier wollen wir die Seilschaft verlassen und auch das Dorf und auch nichts Weiteres verraten. Sicherlich haben Sie es schon gemerkt: Wir befinden uns mitten in einer Parabel über das zeitlose, irrsinnige Mitläufertum. Lesenswert.
Klaus Nilius

Stefan aus dem Siepen: »Das Seil«, dtv-Premium, 176 Seiten, 14,90 €


Zuschrift an die Lokalpresse
So ein Pech! Wie die Berliner Zeitung und andere Tagesblätter am 26. April berichteten, ist schon wieder einmal einem Polizisten der Dienstrevolver abhanden gekommen! Ein Beamter hat in einer Tankstelle in Niederschöneweide das »Örtchen« aufgesucht und sich vorher bequemerweise das Halfter mit der Waffe abgeschnallt.

Nach seiner Verrichtung hat er die Pistole vom Typ »Sauer P 6« dummerweise auf der Toilette vergessen, er hatte wohl schon genug mit der Wiederherstellung seiner Dienstkleidung zu tun, und jetzt ist er sauer.

Wie die Zeitung mitteilt, hat anschließend eine Polizeihundertschaft den Raum vergeblich durchsucht. Dabei muß es ziemlich eng zugegangen sein. Das muß man sich mal vorstellen: Hundert voll ausgerüstete Beamte auf einer einzigen Tankstellentoilette! Die Polizei soll den Tankstellenpächter danach zum »strengsten Stillschweigen« über den Vorfall verpflichtet haben. Er soll also nicht nur darüber schweigen, sondern sogar still schweigen, und das nicht nur streng, sondern sogar strengstens. Der Mann muß ja völlig fertig sein mit seinen Nerven, und das bei dem Stundentarif!

Wie die Auswertung der Videoaufzeichnungen ergab – ich wußte gar nicht, daß das Geschehen auf Tankstellentoiletten auch dokumentiert wird –, könnte ein nachfolgender Kradfahrer die Waffe eventuell an sich genommen haben. Das macht den Vorfall noch gefährlicher, denn um Niederschöneweide herum grassieren ja die Nazis.

Hoffentlich geht die Sache genauso glimpflich ab wie im Wedding. Da hatte doch ein Zivilfahnder die Pistole im Auto liegenlassen, und ausgerechnet das Auto wurde von Ganoven geknackt. Die Diebe waren aber so anständig, bei der Polizei anzurufen und mitzuteilen, daß sie die Waffe in einem Kanal versenkt hatten, damit weiterer Mißbrauch vermieden wird. Eine Spezialtruppe hat dann den Ballermann nach Tagen wieder ans Trockene befördert.

Nun weiß ich nicht, wie die Polizeiführung auf die Vorfälle reagieren wird. Daß den Beamten während der Dienstzeit die Benutzung von Fahrzeugen und öffentlichen Toiletten untersagt werden soll, halte ich jedenfalls für ein Gerücht. – Clementine Baller (58), Spielothek-Aufsichtskraft, 98666 Waffenrod

Nachtrag:
Na, Gottseidank! Beinahe hätte ich das übersehen! In einer klitzekleinen Notiz unter der Überschrift »Pistole wieder da« teilte der Berliner Kurier am 27. April mit, daß der Rollerfahrer, der durch die Überwachungskamera in der Tankstellentoilette ermittelt werden konnte, den Revolver wieder »herausgerückt« hat. Also bitte! Es gibt doch noch ehrliche Schützen! Und ich kann mich wieder sicherer fühlen! Nun würde mich selbstverständlich interessieren, ob noch alle Schüsse im Magazin waren und wie der Mann für seine Großzügigkeit geehrt worden ist.
Wolfgang Helfritsch