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Titel1516

Lügen, morden, die Welt »ordnen«  (Stefan Bollinger)

London ist dieser Tage wohl kaum noch zu erschüttern. Dennoch löste in der ersten Juliwoche der Chilcot-Bericht, die investigative Fleißarbeit einer Untersuchungskommission unter Leitung des ehrenwerten Kronrats John Chilcot, auf den Inseln zumindest kurzzeitig Aufmerksamkeit aus, ein wenig auch in Europa und den USA. Auch wenn sich viele Kommentare ob des gigantischen Umfangs des Reports freuten, wird die Wirkung gewiss gering bleiben. Es wird sich wohl kein Richter finden, der dem Irak-Krieg-Mitmacher Tony Blair, dessen Kabinett, geschweige beteiligten Parlamentariern und Militärs wegen Bruchs des Völkerrechts und Kriegsverbrechen den Prozess macht. Von George Bush jr. und seinen Kumpanen ganz abgesehen.

 

Vielleicht hat der angeschlagene Labour-Chef Jeremy Corbyn wenigstens die Freude, Fakten als Munition gegen Abgeordnete in die Hand zu bekommen, die einst mehrheitlich brave Blair-Anhänger waren. An sie wie an die Tory-Regierungsmehrheit im Parlament gewandt hob er hervor: »Die militärische Intervention im Irak verwandelte nicht nur eine humanitäre Krise in eine Katastrophe, sie überantwortete genauso wie die Intervention in Libyen 2011 die gesamte Region der Gewalt der untereinander verfeindeten Milizen und Terrorgruppen. Der Irak-Krieg erhöht die Bedrohung durch den Terrorismus in unserem eigenen Land ...« (Hansard, 6.7.2016 – eig. Übers.)

 

Im Kern geht es in diesem Bericht allerdings um mehr als die nachweislich »voreilig« und falsch begründete Vernichtung des irakischen Machthabers Saddam Hussein, seiner einst linksgerichteten nationalistischen Baath-Partei und des irakischen Staates. Denn dieser Krieg war in doppelter Hinsicht eine Zäsur in der internationalen Politik nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Er sollte nachdrücklich bekräftigen, dass allein die USA der Sieger und die einzige Hegemonialmacht der postsozialistischen Weltordnung sind. Das hatten schon der zweite Golfkrieg 1991 und vor allem die Kriege auf dem Balkan und der Jugoslawienkrieg von 1999 demonstriert.

 

Jenseits der Wünsche und Interessen Washingtons sollte es keine abweichende Politik irgendeiner Macht geben. Bereits frühzeitig – auf jeden Fall vor 9/11 – gerieten Irak, Iran, Libyen, Syrien auf die Liste der »Schurkenstaaten«, in trauter Gemeinsamkeit mit den als Parteigänger Moskaus und Pekings gebrandmarkten Kuba und Nordkorea. Der Terrorismusvorwand, immer schon gern benutzt und selten mit ernsthaften Fakten untermauert, war in der angeheizten neuen Stimmung gegen El Kaida und alle, die nur irgendwie mit ihr in Verbindung gebracht werden konnten, handlungsbestimmend.

 

Dass es diesmal Saddam Hussein und dem Irak endgültig an den Kragen gehen sollte, war eher Zufall und Ergebnis einer Geheimdienstarbeit, die vor Lüge, Fälschung und dem Kaltstellen eigener aufrechterer Mitarbeiter nicht zurückschreckte.

 

In dem ausgewogenen Chilcot-Bericht wird konstatiert, dass »die Entscheidung für die US‑geführte Invasion des Irak im Jahr 2003 das Produkt einer bestimmten Reihe von Umständen war, die sich wahrscheinlich nicht wiederholen werden. Im Gegensatz zu anderen Fällen, in denen militärische Gewalt verwendet worden ist, war die Invasion weder durch die Aggression eines anderen Landes noch eine sich entfaltende humanitäre Katastrophe veranlasst.« (The Report of the Iraq Inquiry. Executive Summary. S. 129; eig. Übers.) Diplomatisch verquast das Fazit: »Die Umstände, in denen letztlich entschieden wurde, waren hinsichtlich einer Rechtsgrundlage für die UK-Teilnahme alles andere als zufriedenstellend.« (ebd., S. 62)

 

Der Bericht bestätigt, dass die vorgeschobenen Kriegsgründe letztlich falsch und fabriziert waren und der Krieg um des Krieges willen, um Rüstungsprofite, persönliche und generelle Machtansprüche geführt wurde. Die Briten unter Blair spielten als treue »Pudel der USA« willfährig mit – oder wie es der Premier damals Bush versprach: »Was immer du tust, ich bin dabei.«

 

Entscheidender war aber offenbar etwas anderes. Die USA und ihre treuen Verbündeten arbeiteten und arbeiten an einer Welt mit klaren hegemonialen Bedingungen, mit einer führenden USA, der auch Europa, angeführt von der BRD, eng beistehen soll. Ziel ist es, alle unwilligen Staaten und Regionen, in denen Transportrouten, Erdöl oder andere Rohstoffe interessieren, ihrer staatlichen Strukturen zu entleiben. Durch regime change sollen hörige Eliten entstehen, fixiert auf die westlichen, kapitalistischen Werte, auf die westliche »Wertgemeinschaft«, das heißt die neoliberal geprägte US-Hegemonie. Da dies aber – so regelmäßig das Ergebnis einer fragwürdigen Politik – nicht eintritt, hat man sich damit abgefunden, kantonierte, buntfleckige Regionen mit Warlords aller Couleur und permanenten Streitereien durchaus für akzeptabel zu halten.

 

Hauptsache, Öl fließt, Transportrouten sind sicher, und keiner dieser Staaten findet zu einer antiwestlichen, Anti-USA-Konstellation. Wenn, wie 2003 im Irak, auch noch russische Wirtschafts- und Erdöl-Interessen geschädigt werden können, ist das ein erwünschter Kollateralschaden. Permanente Unruhen, Bürgerkriege und ein auch den Westen erfassender Terrorismus werden billigend in Kauf genommen.

 

Nur wer Böses denkt, kommt dabei auf die Idee, dass die anhaltende terroristische Gefahr gut für das Geschäft wichtiger Wirtschaftsbereiche sein könnte und permanente Bedrohungen eine Innenpolitik begünstigen, die Machtinteressen antidemokratisch durchzusetzen hilft. Und der Begriff »Terrorismus« ist so schwammig, dass jeder Staat mit eigenen Positionen Gefahr läuft, als neuer »Hort des Bösen« ausgemacht zu werden.

 

Das Herstellen einer neuen Ordnung im Nahen und Mittleren Osten ist nicht zuletzt ein Schlag gegen jene aufstrebenden Mächte, angefangen mit Russland und China, die nach der weltpolitischen Niederlage von 1989/91 mühsam wieder eine eigenständige Politik geltend machen. Wurde der Jugoslawienkrieg 1999 noch trotz eines zahnlos grollenden russischen Präsidenten Jelzin hinter dem Rücken der UNO ausgelöst, suchten die USA 2003 eine völkerrechtliche Absicherung.

 

Dummerweise waren sich aber trotz der »vortrefflichen« Präsentation der erlogenen Kriegsgründe im Sicherheitsrat dessen Mitglieder Russland, Frankreich und China in ihrer Ablehnung einig. Zu den seltenen Sternstunden deutscher Außenpolitik gehörte, dass auch die Bundesrepublik sich gegen den Krieg erklärte. Dabei sollte allerdings nicht Deutschlands Rolle als Aufmarsch- und Ruheraum für die US-geführte Kriegskoalition vergessen werden, ebenso wenig die Sicherungsmaßnahmen für US-Garnisonen, die deutschen Leitoffiziere in den AWACS-Flugzeugen und das ABC-Bataillon der Bundeswehr in Kuwait. Neutralität sieht anders aus. Immerhin fanden sich die Präsidenten Frankreichs und Russlands und der Bundeskanzler zu einer gemeinsamen Erklärung im Vorfeld zusammen: »Es gibt noch eine Alternative zum Krieg.«

 

Für die weitere Entwicklung folgenschwer war, dass die USA erfolgreich eine »Koalition der Willigen« zimmerten, in der sich unter anderem die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine wiederfanden. Deren postsozialistische Eliten wussten, was von ihnen erwartet wurde, und sie haben bis heute die Chance ergriffen, sich gegen Russland und für die USA in Stellung zu bringen. Der Ausrutscher Gerhard Schröders ist inzwischen, wie wir wissen, längst ausgestanden, und Deutschland erhebt mittlerweile unumwunden wirtschaftlich wie militärisch und politisch einen eigenständigen Führungsanspruch. Der Irakkrieg 2003 sollte Warnung genug sein.