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Titel1920

Nahe der polnischen Grenze  (Frank Schumann)

Kamminke liegt am Haff und in Sichtweite der Grenze zu Polen. Unweit des winzigen Dorfs erhebt sich der Golm. Fast siebzig Meter hoch und damit der höchste Hügel auf der Insel Usedom. Mitten in dem heutigen Naturschutzgebiet sind einst mehrere Tausend Menschen bestattet worden: Am 12. März 1945 griffen fast siebenhundert amerikanische Flieger Swinemünde an. Die Hafenstadt war vollgestopft mit Flüchtlingen und Soldaten, es heißt, fast hunderttausend Menschen hielten sich dort auf, als die Bomben fielen. Mehr als viermal so viel wie die Stadt Einwohner zählte.

 

Etwa drei Kilometer von der zerstörten Stadt entfernt wurden bereits seit 1943 Soldaten auf dem Golm beerdigt: Swinemünde war ein Stützpunkt der Wehrmacht und der Marine mit einem großen Zentrallazarett. Mit Pferdegespannen und Lastkraftwagen fuhr man im März die Toten hinaus, die man in den Ruinen geborgen hatte, und legte sie in Massengräber, ohne ihre Namen zu wissen. Bis heute sind keine dreitausend identifiziert.

 

Wenige Monate später tagten in Potsdam die Siegermächte und legten die deutschen Nachkriegsgrenzen fest. Stalin zog mit dem Bleistift eine Kurve über den östlichen Zipfel der Insel Usedom und entschied, dass Swinemünde außerhalb der sowjetisch besetzten Zone liegen sollte. Pieck und Ulbricht sprachen in Moskau vor. Für die kommunistischen Patrioten sollte die ganze Insel Usedom und damit Swinemünde deutsch bleiben, Stettin desgleichen, das ebenfalls westlich der Oder – der künftigen Grenze – lag. Die KPD hatte dort schon Strukturen aufgebaut und mit der Arbeit begonnen. Doch ihre Intervention blieb ohne Erfolg. Was aus Deutschland werden würde, war 1945 nicht absehbar, wohl aber Polens Zukunft als verbündeter Nachbar der Sowjetunion. Aus militärstrategischen Erwägungen sicherte sich Moskau mit diesem Strich »seinen« westlichsten Ostseehafen in Swinemünde, das fortan Świnoujście hieß. Die Bitte aus Berlin stieß darum auf taube Ohren und blieb eine offene Wunde bis zum Ende der achtziger Jahre. Erst dann regelten die DDR und Polen die Grenzfrage in der Pommerschen Bucht vertraglich. 1992 zogen die letzten vormals sowjetischen Raketenschnellboote der Baltischen Flotte aus Świnoujście ab.

 

Das alles muss man wissen, um zu verstehen, weshalb sich die DDR mit dem Erbe auf dem Golm anfänglich schwertat. Dort waren zwar deutsche Landsleute bestattet, aber sie stammten aus einem Ort, der nun polnisch war. Die Führung in Berlin agierte vorsichtig, unternahm nichts, was einen Anflug von Nationalismus und Revanchismus hätte haben können. Wie sensibel man jenseits der Grenze in der Frage war, zeigte nicht erst der Protest, als der DEFA-Film »Der Aufenthalt« 1983 auf der Berlinale lief. Die Verfilmung des Buches von Hermann Kant würde antipolnische Ressentiments schüren, kam es verärgert aus Warschau. Die DDR-Führung zog sofort das Meisterwerk von Frank Beyer zurück und erlaubte die Aufführung nur noch in kleinen Studio-Kinos.

 

Die evangelische Kirche sah die ungepflegte Gräberanlage auf dem Golm nicht als Politikum, sondern als Auftrag und bemühte sich seit 1950 um eine würdige und angemessene Gestaltung. Auf dem höchsten Punkt der Anlage wurde Ende der sechziger Jahre ein zweigeteilter Rundbau errichtet, ein »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus«. Darinnen ist die Becher-Zeile aus der DDR-Nationalhymne zu lesen: »Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint«. Auf dem steilen Weg hinauf zu dem Mahnmal muss man an einer Plastik vorbei. Die Skulptur »Die Frierende« steht dort seit 1984.

 

Es gibt verschiedene Informationstafeln, am Eingang findet sich ein Pavillon, in dem das Schicksal namentlich bekannter deutscher Opfer erzählt ist, zum Luftangriff wird ebenfalls etwas gesagt. Auch das seit 1992 eine Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm e. V. sich hier engagiert und im Jahr 2000 die Trägerschaft auf den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. übergegangen ist. Nichts gesagt und geschrieben jedoch wird über den verbrecherischen Krieg, wer ihn lostrat und aus welchem Grunde, wer daran verdiente und wer ihn bezahlte. Und weshalb hier, so dicht an der Grenze zu Polen und nach dem deutschen Überfall auf seinen östlichen Nachbarn, die offizielle DDR lange lavierte, diplomatisch übervorsichtig selbst beim Umgang mit Opfern des Krieges handelte.

 

Stattdessen erfährt der Besucher, dass im Frühjahr 1954 ein dreizehn Meter hohes Holzkreuz abgesägt worden sei – von »unbekannten Tätern«, und man setzt diese in Anführungszeichen, weil es sich dabei um eine »offizielle Verlautbarung« gehandelt habe. Die Hervorhebung soll insinuieren, die Täter seien der Obrigkeit bekannt gewesen, vielleicht handelten sie sogar in deren Auftrag. »Die Frierende«, die der Bansiner Bildhauer Rudolf Leptien 1952/53 geschaffen habe, »durfte nicht aufgestellt werden, weil die künstlerische Aussage nicht der Linie der Partei entsprach«. Komisch: Als die Figur 1984 aufgestellt wurde, war noch immer die gleiche Partei am Ruder. Lag es vielleicht daran, dass sie inzwischen ihren Frieden mit dem 1953 nach Westberlin geflohenen Bildhauer gemacht hatte? Oder war das eine widerständische Handlung? »Unter den Gärtnern befand sich auch der Kommunist Richard Döring aus Kamminke. Auf sein Bestreben hin wurde die Skulptur 1984 an der vorgesehenen Stelle ohne Genehmigung der Behörden aufgestellt«, heißt es.

 

Und man erfährt, dass der Rostocker Künstler Wolfgang Eckhardt den Rundbau aus Beton »im staatlichen Auftrag« geschaffen habe. Hört, hört. ... Auf der runden Bodentafel in der Mitte des Runds steht: »Dreiundzwanzigtausend Tote des Zweiten Weltkrieges mahnen«. Dabei wisse man doch gar nicht, wie viele Menschen hier liegen, heißt es vorwurfsvoll, das sei eine propagandistische Überhöhung der DDR. Es seien vielleicht nur zwischen sechs- bis vierzehntausend Tote gewesen. (Wir kennen den unsinnig-pietätlosen Streit um die Opferzahlen schon aus Dresden.)

 

Alles merklich distanzierende Bemerkungen. Doch wer der »Frierenden« 2019 die Nase abschlug und warum, erfährt man nicht. Wohl aber, dass die Becher-Zeile aus Bronze 2009 gestohlen wurde (wie auch die Namenstafeln aus dem gleichen Buntmetall) und dass die dann durch Kunststoff ersetzte Inschrift im darauf folgenden Jahr erneut verschwand – obgleich doch zweisprachig überall angeschlagen steht: »Nach mehreren Diebstählen mussten die Bronzetafeln mit den Namen der Kriegstoten durch Tafeln aus bronzefarbenem Kunststoff ersetzt werden. Diese Tafeln sind für Metalldiebe wertlos.« Es steht zu bezweifeln, dass die vermeintlichen Metalldiebe nicht lesen konnten. Also fragt man sich: Wer hat dann die Inschrift entwendet? Und mit welcher Absicht? Kann ein politisches Motiv ausgeschlossen werden?

 

Irgendwie erinnert das Schicksal der Becher-Zeile an die von Brecht berichtete »Unbesiegbare Inschrift«: »Zur Zeit des Weltkriegs / In einer Zelle des italienischen Gefängnisses San Carlo / Voll von verhafteten Soldaten, Betrunkenen und Dieben / Kratzte ein sozialistischer Soldat mit Kopierstift in die Wand: / Hoch Lenin!« Erst wurde der Schriftzug mit Farbe übermalt, dann polkten ihn Maurer aus der Wand und damit in diese, und als das nichts half, sagte der Wächter: »Jetzt entfernt die Mauer.«

 

»Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.« Die appellierende Inschrift auf dem Golm ist gültiger denn je. Bei allem Unmut über die tendenziösen Begleittexte ist zu würdigen, dass die Zuständigen immer wieder diese Zeile erneuern und sie präsent halten gegen alle globale Unvernunft. Inzwischen besteht sogar »weitgehend Konsens«, dass dort tatsächlich dreiundzwanzigtausend Menschen ruhen: zwanzigtausend Bombentote und dreitausend Soldaten. Es ist wirklich und wahrhaftig die größte Kriegsgräberstätte in Mecklenburg-Vorpommern.

 

Dreißig- bis vierzigtausend Besucher kommen in jedem Jahr hierher.

 

Deutsche und Polen.