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Gerichtshof gegen Zeitdiebstahl  (Marcus Schwarzbach)

Etwas Positives von der Europäischen Union: Im letzten Jahr sorgte der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem Urteil für Schlagzeilen. Beginn und Ende der Arbeitszeit sind vom Unternehmen systematisch zu erfassen, fordert der EuGH. Eine spanische Gewerkschaft ist mit ihrer Klage gegen eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank vorgegangen, um ein System zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten.

 

Die Entscheidung ist für viele Beschäftigte bedeutsam. Denn immer mehr Betriebe setzen auf das Prinzip der »indirekten Steuerung«. Sie erfolgt, indem sich Beschäftigte in eigener Verantwortung innerhalb der Vorgaben direkt dem Kunden gegenüber am Markt orientieren müssen. Das Arbeitsverhältnis soll zum Verhältnis »Dienstleister gegenüber Kunde« werden, um so scheinbar aus dem Angestellten einen »Unternehmer im Unternehmen« zu machen. »Starre Abläufe, strenge Hierarchien oder Arbeit nach Plan in den zementierten Grenzen der Abteilungen passen nicht zu der digitalen Ära. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet und mit ihr vertraute Gewissheiten über feste Arbeitszeiten und -orte. Dank Smartphones, Laptops und Videokonferenzen ist es zunehmend egal, wo gearbeitet wird. Gefragt sind flexible, dynamische, vernetzte Strukturen, die unmittelbar reagieren auf die Veränderungen«, beschreibt die Krankenversicherung DAK-Gesundheit die Situation.

 

Das moderne Unternehmen »ermutigt Mitarbeiter, aktiv und schnell individuelle Lösungen an der direkten Kontaktstelle zum Kunden zu entwickeln, anstatt auf zentrale Vorgaben zu warten oder durch zu viele und zu starre bürokratische Planungs-, Kontroll- und Reporting-Aktivitäten gelähmt zu werden«, erklärt Achim Mollbac von der Unternehmensberatung Kienbaum.

 

Ein Beispiel hierfür können Zielvereinbarungen sein. Bei diesen ist nicht »der Weg« das Entscheidende, vielmehr zählt nur das Ziel, etwa die Projekterreichung zu einem bestimmten Zeitpunkt oder der Verkauf von Produkten. Wieviel Zeit der Beschäftigte dabei benötigt, ob er die Arbeit in der Woche oder am Samstag oder Sonntag erledigt, ist für das Unternehmen ohne Bedeutung.

 

Die Unternehmen setzen auf verschiedene Formen des Zeitdiebstahls: Das kann über den Arbeitsvertrag erfolgen, indem Überstunden als mit dem Gehalt »abgegolten« gelten, also nicht bezahlt werden. Arbeitsrechtlich ist das so pauschal nicht zulässig, oft ist es auch ein Verstoß gegen den Tarifvertrag – aber trotzdem in vielen Betrieben Praxis.

 

Ein weiterer Versuch, die Arbeitszeit auszuweiten, erfolgt über »Vertrauensarbeitszeit«: Dabei wird auf die Erfassung von Arbeitszeit verzichtet. Gerade mobile Arbeit oder Arbeit im Homeoffice wird von Unternehmen dafür gern als Vorwand genutzt. »Der Spruch, dass Kontrolle durch Vertrauen ersetzt werden soll, verdeckt jedoch, worum es geht: Die Arbeitgeber schaffen die Zeiterfassung erst dann ab, wenn sie vorher Bedingungen geschaffen haben, unter denen sich die Abschaffung der Zeiterfassung für sie rechnet«, analysiert der Philosoph Klaus Peters die Folgen der Abschaffung der Stempeluhr beim Computer-Konzern IBM. In der Praxis erleben Beschäftigte, dass die Einführung der »Vertrauensarbeitszeit« weitgehende negative Folgen hat. Denn die Zeiterfassung stellt eine Absicherung des Werktätigen dem Unternehmen gegenüber dar.

 

Das EuGH-Urteil ist deshalb umso wichtiger. Entscheidend ist allerdings das Kleingedruckte – denn was wurde entschieden? Ein Gesetz ist mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie unvereinbar, wenn die Unternehmen nicht verpflichtet sind, ein System  der Zeiterfassung einzurichten, erklärt der Gerichtshof im besten Juristendeutsch. Gefordert ist also der Gesetzgeber. Aber die Entscheidung hat bis heute zu keinen Aktivitäten von Bundesregierung oder Bundestag geführt.

 

Gefordert sind deshalb vor Ort Betriebsräte und Gewerkschafter, die versuchen, über geänderte Betriebsvereinbarungen Grenzen zu setzen. Der Kampf um die Arbeitszeiten ist ein Dauerkonflikt im Kapitalismus. Bereits Karl Marx formulierte zur Länge des Arbeitstages: »Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, das heißt der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse« (MEW 23: 249).

 

Wie akut die Probleme sind, belegen aktuelle Untersuchungen: »Die aktuellen Befunde des DGB-Index ›Gute Arbeit‹ zeigen«, so der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, »der Arbeitsstress bleibt auf einem besorgniserregend hohen Niveau.« 53 Prozent der Befragten berichten, dass sie sich bei der Arbeit sehr häufig oder oft gehetzt fühlen. Insgesamt klagen 26 Prozent der Beschäftigten, dass sie sehr häufig oder oft die Arbeitsmenge, die sie eigentlich erledigen müssten, nicht in der vorgesehenen Arbeitszeit schaffen können.

Auch die Krankenkassen liefern Zahlen. Die Ausfallzeiten durch psychische Erkrankungen sind im Vergleich zum Vorjahr mit einem Plus von 5,4 Prozent am meisten gestiegen. Innerhalb von zehn Jahren haben sich die Fehltage mit dieser Diagnose mehr als verdoppelt, der Zuwachs betrug 129,4 Prozent, verdeutlicht der Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen (BKK).

 

Um psychische Belastungen und Stress einzudämmen, »benötigen wir eine Antistressverordnung mit klaren und verbindlichen Richtlinien für Arbeitgeber«, fordert Jutta Krellmann von der Bundestagsfraktion Die Linke (junge Welt 6.12.2019) völlig zu Recht.