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Titel1320

Der Kunstlump  (Claus Kristen)

Am 15. März 1920, während des Kapp-Lüttwitz-Putsches, verübten Reichswehreinheiten ein Massaker in Dresden, bei dem es zu circa 60 Toten und 200 Verwundeten kam. Bei den Kämpfen durchschlug eine Kugel ein Fenster der Sempergalerie und das Gemälde »Bathseba am Springbrunnen« von Peter Paul Rubens. Oskar Kokoschka, damals Professor an der Dresdner Kunstakademie, veröffentlichte darauf einen Appell, während solcherlei Auseinandersetzungen kulturelle Werte zu schonen und sich besser auf ein Terrain zu begeben, auf welchem diese nicht beschädigt werden können – etwa auf Schießplätze in der Heide oder den Zirkus.

 

Das veranlasste John Heartfield und George Grosz zu einer Replik in der Zeitschrift Der Gegner. Unter der Überschrift »Der Kunstlump« schrieben sie mit ätzender Feder: »Wir begrüßen mit Freude, daß die Kugeln in Galerien und Paläste, in die Meisterbilder der Rubens sausen, statt in die Häuser der Armen in den Arbeitervierteln!« Darüber hinaus stellten sie die »Kunst«, die in der bürgerlichen Gesellschaft lediglich einen Marktwert besitze, generell in Frage: »Was soll der Arbeiter mit Kunst? … Die Titulierung ›Künstler‹ ist eine Beleidigung. Die Bezeichnung ›Kunst‹ ist eine Annullierung der menschlichen Gleichwertigkeit.« Kokoschka sei nichts anderes als ein »Kunstbürschchen« und »Kunstlump«.

 

Nunmehr fühlte sich Gertrud Alexander, führende Kulturtheoretikerin der KPD, bemüßigt, in der Roten Fahne zu antworten. Alexander verstand sich in der Nachfolge Franz Mehrings als Verteidigerin des »bürgerlichen Erbes« und betonte Begriffe wie »Ewiges«, »Unsterbliches« oder »Genie«. Sie unterstellte Heartfield und Grosz »Vandalismus«, äußerte selbst starke Vorbehalte gegenüber »moderner Kunst« wie Futurismus und Kubismus und fragte: »Haben ein Rembrandt, ein Rubens, ein Michelangelo, ein Beethoven, ein van Gogh schuld, daß ihre Werke dem Bürger nichts als Spekulationsobjekt sind?«

 

Julian Gumperz, Gegner-Herausgeber, bemerkte dazu in einem weiteren Beitrag in der Roten Fahne, es gehe hierbei keineswegs um eine »Schuld« Rembrandts, Rubens’, Michelangelos oder van Goghs: »Es handelt sich hier gar nicht um eine Frage der Schuld, sondern um eine Frage der Wirkung … Es gibt keine Kultur und Kunst, die über den Klassen steht.«

 

Bereits einen Tag später, am 23. Juni 1920, antwortete Gertrud Alexander und bezeichnete Expressionismus und die »anderen modernen Richtungen« als »Verfallserscheinung und Verfallsprodukt der bürgerlichen Gesellschaft«, dem sie selbst »die revolutionäre Maske … vom Gesicht gezogen habe«. In Richtung Heartfield und Grosz schreibt sie: »Deutlicher kann man doch Lust und Wollen zur Vernichtung nicht formulieren.« In einem weiteren Artikel, der einen Monat später in der Roten Fahne erschien, lässt sie ihrer Verachtung gegenüber »moderner Kunst«, die sie als »Sammlung von Perversitäten« bezeichnet, freien Lauf: »Wer aber selber nichts kann als blöden Kitsch zu kleben wie Dada, soll die Hände lassen von der Kunst.«

 

Die Auseinandersetzung zeigt in bemerkenswerter Weise, wie vielfältig und kontrovers Fragen der »Kunst« in den linken Kreisen der damaligen Zeit diskutiert wurden. Noch zwei Jahre später, im Jahr 1922, geht Max Herrmann-Neiße in einer Rede mit dem Titel »Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proleta-riat« – als Broschüre publiziert im Verlag der Zeitschrift Die Aktion – ausführlich auf die Problematik ein, ohne sich explizit auf den Dresdner Vorfall zu beziehen. Herrmann-Neiße stellt die Frage: »Hat das, was in Kunst und Dichtung bisher offiziell als das Verehrungswürdige gepriesen wurde, auch für den klassenbewußten Proletarier Wert?« Er analysiert die Werke bekannter Schriftsteller, geht mit Goethe hart ins Gericht und kommt zu dem Schluss: »Der Glaube an die Kunst, die Ehrfurcht vor der Kunst, ist, scheint mir, der letzte und gefährlichste Wahn, dem die Menschen erliegen.«

 

Gertrud Alexander hatte gegenüber Heartfield/Grosz behauptet, »daß es sich um eine vollständig anarchistische Anschauung gegenüber Kunst und Kultur handelt. Dieser Anarchismus entpuppt sich als ein Ausweg primitivster Art, den Kapitalismus zu überwinden.« Dabei führt sie als historische Analogie die englischen Maschinenstürmer des beginnenden 19. Jahrhunderts an. Das Proletariat solle die Produktionsmittel nicht zerstören, sondern übernehmen – ebenso wie das gesamte kulturelle Erbe.

 

Demgegenüber gibt es die Auffassung, gerade die damaligen Maschinenstürmer hätten in seltener Klarheit den Klassencharakter der kapitalistischen Maschinerie erkannt. Einen Kontrapunkt zu Gertrud Alexanders Geschichtsbild hatte schon Herrmann-Neiße in seiner Rede formuliert: »Die Wissenschaft ist ein Mittel zur Beherrschung der Arbeiterklasse durch die Bürgerklasse, ein Mittel der Klassenherrschaft!« Und in der Tat lässt sich darüber streiten, ob die bloße Übernahme bisheriger Produktionsmittel und -kräfte erstrebenswert ist – oder nicht vielmehr eine partielle Abschaffung derselben, da sie sich bisweilen eher als Destruktionskräfte erweisen. So betrachtet gewinnt die »Kunstlump-Debatte« eine zunächst ungeahnte Aktualität.

 

 

Claus Kristen beschäftigt sich mit deutscher Kolonialgeschichte und mit der Weimarer Republik (siehe auch www.clauskristen.de). Im Schmetterling Verlag erschien hierzu sein Buch: »Ein Leben in Manneszucht. Von Kolonien und Novemberrevolution – ›Städtebezwinger‹ Georg Maercker«.