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Titel1320

Momentaufnahmen Dauer verleihen  (Klaus Hammer)

Beide gehören zu den stillen Malern und Grafikern, die Kunst mit sich allein und wie außerhalb der zeitlichen Strömungen abmachen: Antje Fretwurst-Colberg und Friedrich Wilhelm Fretwurst. Momentaufnahmen verleiht das Künstlerpaar Dauer. Antje Fretwurst-Colberg, geboren 1940 in Hamburg, aufgewachsen in Rostock, Kunsterziehungsstudium in Greifswald, Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee bei Arno Mohr, zunächst in Berlin, dann mit Familie in Mecklenburg-Vorpommern ansässig, ist in ihren Ölbildern und Gouachen immer wieder zu vertrauten Berlin-Motiven zurückgekehrt: Spreebrücken, Bahnhöfe und S-Bahn-Viadukte, Berliner Hinterhöfe, das Gespräch am Kaffeetisch oder vor der Haustür, Menschen auf der Straße und im Lokal, Dampferfahrt auf der Spree. Nicht die übersteigerte Nervosität und Hektik der Berliner Straßenszenen interessieren sie, nicht die Großstadt als Ort anonymer Menschenmassen und künstlicher Vergnügungen inspiriert sie, sondern kleine, einfache Szenen aus dem Leben, dem Alltag. Sie lässt sich immer wieder von den vertrauten Dingen in ihrem Blickfeld überraschen, beschneidet sie auf merkwürdige Weise, malt sie von unerwarteten Winkeln aus. Sie entwickelt einen ausgesprochenen Sinn für das Räumliche, für verkürzte oder erweiterte Horizonte, versetzte Sichten. Alles ist von einem persönlichen, nichtöffentlichen Standpunkt aus gesehen.

 

Geheimnisvoll, still liegt die Farbe auf ihren fast stilllebenhaften Bildern, wie Gedanken, die sich lautlos auf ihren Gegenständen abgelagert haben. Da ist viel Nachdenklichkeit und Melancholie, so richtig heiter sind ihre Arbeiten nicht. Da ist menschliche Einsamkeit und Angst, Verlorenheit im Menschengedränge, aber kein Schrei, keine unheildrohende Umwelt, mag sie noch so trist sein, keine Disharmonie und keine entschiedenen Kontraste. Die Schönheit von Intimität und bis ins Kleinste reichender Intensität. Der Pinselstrich ist leicht und zugleich dicht verwoben, die Materie erscheint mitunter halb geformt. Die Künstlerin hat auch Aquatinten, die in ihrer Wirkung der Tuschzeichnung ähneln, mit feinnervigem Gespür für die Unwägbarkeiten des Kolorits übermalt und so weiche, aber nicht zerlaufende Farbaufträge und Lineaturen erzielt. Zeichnerische Strukturen treten bei ihr überhaupt zugunsten malerischer Ordnungen zurück.

 

Die Schönheit der Arbeiten des 1936 in Althagen/Fischland geborenen Friedrich W. Fretwurst, der wie seine Frau erst Kunsterziehung in Greifswald, dann Malerei und freie Grafik bei Fritz Dähn und Arno Mohr an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee studierte, beruht auf Balance bei hoher Komplikation des Bildgeschehens. Auch er hat sich Berliner Stadtansichten gewidmet, vor allem aber der Landschaft seiner Kindheit, in die er wieder zurückgekehrt ist: dem Meer und dem Bodden. Die Leinwand, die Hartfaserplatte, das Papier scheinen seiner konstruktiven Phantasie nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zu bieten. Bei ihm bildet sich die Farbfläche durch Probieren, »Einstimmen«, Einfärben, Streichen, Tränken der Fläche mit verdünnten Mixturen, pastosen Überlagerungen, durch Zeichnen, Aussparen, Übermalen. Die Formenwelt entfaltet sich aus den spannungsvoll ausbalancierten Bezügen farbiger Texturen, aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Das ist Malerei mit einer Vielzahl von Bezügen, Formen, Farben, und der besonderen Art und Weise ihrer Behandlung.

 

Aus Ockergelb und Türkisblau werden die »Goldenen Berge« (1992) unserer Träume geboren. Dann wieder ziehen pfeilschnelle Flugkörper am Himmel ihre Bahn, leicht, spitz, verletzend. In der Sogwirkung des Sturmes stehen, wirbeln, tanzen Menschen auf der Erde. »Genießen Sie den Untergang des Abendlandes…« (1994) ist der Titel dieses Bildes. Die eigene Katastrophe bereitet hier höchstes Vergnügen.

 

Das Eingebundensein des Menschen in die Natur und sein gleichzeitiges Getrenntsein von ihr – das war schon Thema der Romantik. Wie ein Seiltänzer bewegt sich Friedrich W. Fretwurst auf der unsichtbaren, »gläsernen« Grenzlinie zwischen der inneren und äußeren Landschaft. »Drachen am Strand« (1996) ist als Zitat von Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer« ein Schlüsselbild. Die Kompaktheit der Flugkörper, die eigentlich papierleichte Hohlkörper sind, drückt – trotz der Weite und Leere des Raumes – den einzelnen Menschen fast zu Boden und gibt der Szene eine starke räumliche Verdichtung, eine fast klaustrophobische Zusammendrängung.

 

Friedrich W. Fretwurst erfährt das Widerständige, das Gegenständliche der Dingwelt, das sinnlich-sinnenhafte Entstehen von Materialität in der Vorstellung an aufgipfelnden Steilufern, gedrängten Hafen- und weiten Strandbildern, von Feststimmungen mit pastosem, temperamentvollem, fast unbekümmertem Farbauftrag, oder bei Gewitterstürmen und Regenlandschaften. Selten spannt sich in unseren Breiten ein azurblauer Himmel über das Rund unseres Horizonts, eher türmen sich gewaltige Wolkenmassen, die schon Emil Nolde faszinierten, drücken uns graue Wolkendecken nieder, hindern diffuse Dunstschleier die Sicht, lösen Winternebel die Konturen auf; Phänomene, die William Turner, James McNeill Whistler und Caspar David Friedrich auf ganz unterschiedliche Weise inspirierten. Zwiesprache der Stoffe, Wandlungen, Zustände und Übergänge – das erregt das Interesse Fretwursts immer wieder von neuem. Und immer ist der Betrachter selbst Teil der Landschaft, stets im Mittelpunkt des Horizontkreises.

 

Ja, Landschaften können komplexe Partituren sein, in denen jeder die Spur seiner Melodie finden mag. Erstaunlich, dass in den Arbeiten so großer Dichte bei beiden Künstlern die »Lösung« oft einfach und plausibel erscheint: Ein Indiz für die Fähigkeit, diffuse Formkomplexe zusammenzufassen, ein Indiz wohl zugleich für die Bewahrung eines einheitlichen Lebensgefühls in der Balance des Disparaten.

 

 

Antje Fretwurst-Colberg und Friedrich Wilhelm Fretwurst. Galerie der Berliner Graphikpresse, Silvio-Meier-Straße 6, 10247 Berlin-Friedrichshain, Mi – Fr 13 – 18.30 Uhr, Sa 11 – 15 Uhr, bis 17. Juli.