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Titel1517

Der aufgelöste Skulpturenbegriff in Münster  (Peter Arlt)

Für zweierlei Menschensorten ist das Skulptur-Projekt in Münster besonders geeignet: für solche, die sich als Kind gern an der Schnitzeljagd beteiligt haben, und für Kunstfreunde, die detektivisch mit geschärftem Kunstverstand jene Kunstformen ermitteln, die in der ausgebreiteten alltäglichen Umgebung verborgen sind.

 

Als ein sicheres Merkmal, Kunst als Kunst zu erkennen, gilt, dass sie sozusagen unnütz ist, keinen praktischen Zweck verfolgt. In den Industriebrachen könnte manches ausrangierte Kunst sein, am Mittelhafen der alte Schiffskran ohne Funktion. Daneben das Betonobjekt, dessen schwarze Rußspuren auf Feuermachen deuten, es wurde also benutzt und ist somit ein Zweckbau und eigentlich nicht als Kunstwerk zu begreifen. Oscar Tuazon aus Los Angeles hat in das Betonobjekt als besteigbarem Zylinder einen verwendbaren Kamin mit röhrenhaftem Schornsteinaufsatz eingebaut. Das widerspricht dieser Kunstbestimmung und verlangt, die Formel zu öffnen und den »handlungsorientierten Skulpturbegriff« zu akzeptieren. Abstrakt definierte Kunst Lew S. Wygotski, übertragen von Helmut Barth: »Von der Emotion der Form zu etwas, was auf sie folgt« (Fundus 44/45). Vom wirklichen Zweckbau führt die verkürzte Form zu einer Architektursatire aus der Arte povera, lässt eine Emotion aufkommen, die gedanklich oder sogar wirklich Wärmespender und Aussichtsplattform als ein Werk und als eine gestalthafte Zeichenfindung versteht, dem »eine soziale Dimension« zukommt (Katalog, 480 Seiten, 15 €).

 

In Stadtraumwinkeln und in Gebäuden, am Prachtbau Johann Conrad Schlauns, an einem Fernmeldeturm und im Kanal auf einer Unterwasserbrücke oder auf offener Wiese finden sich Installationen, Mixed Media und Environments, Videos und Fotos, Werbeschriften, Graffitis, Performance, Sprache, Musik und die digitale Welt – in einer ständigen Vermittlung zwischen den vielfältigsten Medien, die bis zur weitgehenden Aufhebung des plastischen Volumens zum völlig aufgelösten Skulpturbegriff führen.

 

Moderne Skulpturen sind das »Momentary Monument« aus Granit von der Turinerin Lara Favaretto, die auf einen Tieflader vor dem LWL-Museum gestellte riesige schwarze Kiste mit der Aufschrift »Fragile« oder der gestückelte Lindwurm vor und hinter dem Erbdrostenhof. Auf einer Wiese vor der Promenade liegt »Nietzsche´s Rock« aus Beton, Glasfaser und medizinischen Gehhilfen, die der New Yorker Justin Matherly mit jenem Schweizer Felsen verband, der den Philosophen »zur Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen angeregt hat«, wie der Projekte-Faltplan sagt. Zwar laden die Stützen zum Aufsteigen ein, aber Schilder untersagen dies und schaffen ihrerseits ein Beispiel für die ewige Wiederkehr der Verbote.

 

Das Denken in architektonischen Bildern, das Architekturmodell als Form künstlerischer Metaphorik, erweist sich in Münster als produktiv, und es hängt noch an dem Skulpturenbegriff. Eindrucksvoll steht an einem kleinen Parkteich Thomas Schüttes in düster-würdiger Form konstruierter »Nuclear Temple«, der Assoziationen weckt an eine Bombe und den Atom-Dom in Hiroshima, an den Pantheon oder einen Gasbehälter, seine rostige Form erinnert an Vergänglichkeit.

 

Vor einer Baustelle errichtete Christian Odzuck eine Tribüne mit heterogenen Materialien: Wände aus scheinbaren Steinblöcken, gegossene Betondecken, einfache Stahlrohre. Ein Bau, um von erhöhter Stelle in die durch den Rückbau der ehemaligen Oberfinanzdirektion entstandene Baugrube blicken zu können. Es ist ein Sinnbild für die verschiedenen, wechselnden Intentionen des Bauens, die allgemein als Symbol für Lebensziele stehen können.

 

Zur Empörung der Münsteraner errichtete das deutsche Duo Peles Empire eine acht Meter hohe, mit Fotocollagen beklebte Fassade, die einige Parkplätze wegnimmt.

 

Manche Skulptur-Projekte dienen dem Stadtmarketing, führen durch Siedlungen, bringen Leuchtstoffwerbung gegen die Angst an, verlangen einen QR-Code-Scanner und lassen – ein Kunstfreund zeigte es mir auf seinem Smartphone – sogar Kurzfilme laufen. Es gibt Werbung für Tattoos, die Senioren preiswerter kriegen, um wie die Alten bei Cranach verjüngt der Prozedur zu entsteigen.

 

Mit dem Flüchtlingsthema geht zwar die ernst zu nehmende und zu begrüßende Einbindung künstlerischer Arbeit in die soziale Praxis einher, doch betont sie das Soziologische und trivialisiert den Bildbegriff.

 

2017 erinnert an den ursprünglichen Sinn von Skulpturen nur ein Beleg von der New Yorkerin Nicole Eisenman, die im Medium einer figürlichen Skulptur, wie es im Katalog heißt, »dessen haptisch-sinnliche Qualitäten schätzt«. Wäre aus solcher Intention nicht mehr zu machen?

 

Ein Plakat stieß mich zu der eine Alternative bietenden Ausstellung »Käthe Kollwitz & Lotta Blokker. Verwandte Nähe« (vgl. Ossietzky 8/2015). Mit »imitatio« und »mimesis« schufen beide Künstlerinnen über die Gleichgestaltigkeit tief berührende Sinnbilder der Innigkeit, der kinderschützenden Mutter und der Liebe. Im Jahr des 150. Geburtstages von Käthe Kollwitz muss nochmals eindringlich betont werden, dass sich die Skulpturen-Projekte in Münster der alten Griechen Kunst erinnern sollten, die sich am menschlichen Maße misst.

 

 

Skulptur-Projekt, bis 1. Oktober, Mo-So 10-20 Uhr, Fr 10-22 Uhr, zuweilen anders, Eintritt frei; Doppelausstellung »Käthe Kollwitz & Lotta Blokker«, bis 27. August, Mo-Fr 12-18 Uhr, Sa/So 10-16 Uhr, Ev. Apostelkirche am So erst ab 12 Uhr, Eintritt frei