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Titel1911

Wütende Bestie – scheues Reh  (Christophe Zerpka)

In diesen Tagen liest man auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen und hört von den Politikern: Die Märkte müssen beruhigt werden! Aber was ist das für ein unheimliches Wesen, vor dem selbst die angeblich mächtigen Staatslenker so ohnmächtig erscheinen: der Markt? Es scheint sich um ein fürchterliches Fabelwesen zu handeln, eine Hydra, einen Zyklopen, den man auf keinen Fall reizen darf. Das einzige, was vielleicht hilft, ist begütigendes Einreden, ein leckeres Häppchen, ein paar Streicheleinheiten. Alle stehen ängstlich herum um diese Bestie, die unberechenbar erscheint. Ausgerechnet zur schönsten Sommerzeit, wenn die Politik Urlaub macht, ist das schreckliche Tier wieder wütend geworden. Jemand soll etwas gesagt haben, worüber es sich furchtbar aufgeregt hat. Nun schimpfen alle auf den, der den leichten Schlaf gestört hat. Dabei ist dieser bedrohliche Lindwurm nur ein unglaublich gefräßiger verwöhnter Dackel, den alle hätschelten, bis er zum ungekrönten König der Tiere wurde.

Der nimmersatte Markt ernährt sich von endlosen Nullen und Hochprozentigem, von amerikanischen Trillionen und europäischen Risikoaufschlägen. Nach Bill Clintons stupidem Satz »It’s the economie, stupid« war der Primat der Märkte über die Politik endgültig zum Dogma geworden. Der Glaube an den Markt bekam religiöse Züge. Wer sich der neuen Weltreligion entziehen wollte, bekam schnell die Instrumente der Finanzinquisition zu spüren. Die Weltbank sanktioniert Verstaatlichungen und sozialstaatliche Ansätze mit erbarmungsloser Kreditverweigerung, ihre Schergen wachen penibel über die Einhaltung der Vorgaben des totalen Marktes.

In den Kernländern ist die Machtergreifung längst vollzogen, die politische Führung ist resigniert oder korrumpiert. Der deutsche Bundeskanzler Ackermann feierte im Kanzleramt seinen Geburtstag, eine Frau Merkel war auch eingeladen.

Steuergelder gelten als lange vernachlässigter, nun zu hebender Schatz, der dem Finanzmarkt zur freien Verfügung gestellt wird. Wer als Kind einst beim Monopoly davon geträumt hatte, das gewonnene Spielgeld möge doch zur Realwährung werden, dem wird heute verkündet: Alles ist möglich! Riskante Wetten mit garantierten Gewinnen, todsichere Ausfallkreditversicherungen, einträgliche Finanzspekulationen. Transaktionen, die mit realer Wirtschaft nichts mehr gemein haben, ermöglichen Gewinne von 25 Prozent. Seit die Deutsche Bank dieses Ziel erreicht hat, gibt es kein Zurück.

Das Kapital sei ein scheues Reh, das man nicht verscheuchen dürfe, hieß es vor noch nicht allzu langer Zeit. Doch der scheue Investor, den es zu halten galt, steckt sein Kapital längst nicht mehr in echte Fabriken mit lebenden Lohnempfängern. Wer nicht als altmodisch gelten will, investiert in den Geldmarkt, der zwar virtuell ist, aber ungemein höhere Renditen ermöglicht. Das grenzenlose Spekulieren hat zudem den Vorteil, daß es kaum durch Gesetze und Vorschriften eingeschränkt wird. Das weltweite Bankensystem hat sich eine Relevanz geschaffen, die einen Konkurs zur Katastrophe werden läßt. Oder mit dem berühmtem, leicht abgewandelten Brecht-Zitat: »Was ist die Gründung einer Bank gegen den Zusammenbruch einer Bank.«