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Titel720

Raffael – der »Göttliche«  (Klaus Hammer)

Dass man ihn später den »Göttlichen« nannte, il divino, zeichnete sich schon im Moment seines frühen Ablebens mit 37 Jahren ab. Mit Leonardo da Vinci und Michelangelo zählt der geniale Maler und Architekt Raffael zu den maßgeblichen Protagonisten der Hochrenaissance. Entsprechend Leonardos Prinzip einer Metamorphose der Formen ging es auch ihm darum, ein Thema durch viele Fassungen zu variieren. So entwickelte er eine erstaunliche Fülle verschiedener Madonnenmotive, die er im Laufe mehrerer Jahre in Gemälde umsetzte. Allein fünf Madonnen besitzt die Berliner Gemäldegalerie, und sie präsentiert sie seit Dezember 2019 – mit einer ausführlichen Darstellung ihrer Berliner Ausstellungsgeschichte – anlässlich des 500. Todesjahres Raffaels 2020 in einer exquisiten Kabinettausstellung. Sie wird ergänzt durch das ebenso berühmte Gemälde »Madonna mit den Nelken« (1505–1508) aus der National Gallery London, das, erst Anfang der 1990er Jahre in der Sammlung des Duke of Northumberland als Original erkannt, nun zum ersten Mal außerhalb Englands zu sehen ist.

 

Unser Genuss in der Betrachtung der Gemälde kann von der Freude an den perfekt gemalten Details bis zur Würdigung der Komplexität der zarten formalen Ausgewogenheit und Struktur der Bilder reichen. Wir können uns ebenso durch die Entdeckung des subtilen Wechselspiels von Blicken zwischen den Figuren bereichern lassen, die in einen profunden und stillen Austausch vertieft sind, wie durch die Erkenntnis der Weisheit, die sich im Bildganzen offenbart. Jedem Gemälde gab Raffael eine andere Betonung, jedes repräsentiert eine weitere – andere – Stufe seiner Entwicklung.

 

In dem frühesten Bild, der »Madonna Solly« (um 1502) wenden sich Mutter und Kind scheinbar dem Buch zu, das Maria in den Händen hält, aber zugleich geht ihr Blick in die Ferne – oder sind beide nicht in sich selbst versunken? Die »Madonna Terranuova« (1505) – sie kann mit Raffaels Zeichnung des Kopfes der Madonna (um 1505) aus dem Kupferstichkabinett verglichen werden – füllt das Tondo mit beherrschender Kraft. Das innige Verhältnis Marias zum Jesuskind und dessen Geborgenheit im Schoß der Mutter kommen in der traulichen Umschlossenheit des runden Raumes besonders zur Geltung. Gleichzeitig hat Raffael seine florentinische Kompositionserfindung des Dreiecks den vier Figuren eingeschrieben. Deren Gesten sind von raumgreifender Plastizität und rücken die Figuren nahe an den Betrachter. Sie scheinen zu sprechen oder uns doch durch die Intensität ihres Gefühls an ihrer Vision teilhaben zu lassen. Der Seelenzustand, das emotionale Element sind zu etwas ganz und gar Persönlichem geworden. Das zeichnet die menschlichen Figuren Raffaels aus, sie sind frei vom Ausdruck des Konflikts, weniger expressiv und problembestimmt, sie sind gelöster, so wie auch Raffael persönlich ein ausgeglicheneres Verhältnis zur Welt hatte als Michelangelo, sein Kollege und Rivale in Rom.

 

Eine der reifsten Leistungen seiner Florentiner Zeit, die »Madonna Colonna« (um 1508), ist von heiterer Gegenwärtigkeit. Raffael behielt das von Leonardo hergeleitete feintonige Kolorit bei, verlieh den Farben aber neue Substanz. Das Erdbeerrosa des Gemäldes wird einem im Gedächtnis bleiben. Mittels der Farbe erfolgt überhaupt die Entfaltung im Raum. Form, Farbe und das Hell-Dunkel verbinden sich, und alle rein linearen Elemente der Modellierung werden vermieden. Eine jugendliche Maria, die mit dem Christuskind spielt, zeigt dann die »Madonna mit den Nelken« aus London. Raffael platziert hier die Dreieckskomposition Leonardos in einem ebenfalls von diesem inspirierten Raum mit offenem Fenster, welches das gedämpfte Licht erklärt. Die roten Nelken (Hinweis auf die Passion Christi) scheinen einen Augenblick lang in einem Schwebezustand zu verharren, bevor der Christusknabe sie ergreift.

 

Die »Sixtinische Madonna« (1512/13), die 1754 nach Dresden kam und das Glanzstück der Galerie Alte Meister bildet, gilt als die Krönung der Madonnendarstellungen Raffaels. Wegen des gleichen engen Beieinanders der Köpfe von Mutter und Kind können die Berliner Madonnenbilder als ihre »irdischen Gegenstücke« in Beziehung gesetzt werden. Landschaftliches bildet ihren Hintergrund, während die »Sixtinische« schwerelos in den Himmel versetzt ist.

 

In dem Ausstellungsprojekt »Raffael in Berlin« der Staatlichen Museen zu Berlin zeigt das Kupferstichkabinett in einer weiteren Ausstellung Arbeiten auf Papier, Meisterwerke aus der italienischen Renaissance. Elf eigenhändige Zeichnungen Raffaels, die er in Vorbereitung seiner großen Gemälde angelegt hat, besitzt das Kupferstichkabinett, und es präsentiert sie jetzt zusammen mit einem Dutzend Zeichnungen seiner engsten Weggefährten, darunter seines Lehrers Perugino. (Gerade die Physiognomien gehören zum Typenschatz, den Raffael von Perugino aufgenommen hat.) Ergänzt werden sie durch Blätter seiner wichtigsten Schüler und Mitarbeiter in seiner Werkstatt wie Giulio Romano und Gianfrancesco Penni. Arbeiten auf Papier sind besonders lichtempfindlich. Deshalb werden sie nur selten der Öffentlichkeit vorgestellt.

 

Ganz nah an den Künstler herangeführt, kann der Betrachter Raffaels Strategien der bildlichen Erzählung an seinen Blättern verfolgen. Viele seiner großen Vorhaben – Gemälde, Fresko oder Architektur, aber auch Druckgrafik – hat der Meister nur noch zeichnerisch vorbereitet und deren Realisierung seiner Werkstatt übertragen. Um seine Bild-Entwürfe gezielt weiter bekannt zu machen, ließ er einige Kompositionen druckgrafisch reproduzieren, entwickelte aber auch Erfindungen speziell für die Vervielfältigung im Kupferstich.

 

Fast alle Entscheidungen über das Aussehen seiner berühmten Bildwerke hat Raffael mit Hilfe von Zeichnungen getroffen. Auf Papier gewannen seine Ideen erste Gestalt, hier formte und entwickelte er seine Entwürfe und bereitete ihre Ausführung vor. In seinen Zeichenmedien und technischen Hilfsmitteln zeigt sich ein großer Reichtum: Feder und Pinsel, Tinte und Deckweiß, schwarze und rote Kreide, Silberstift und Kohle. Raffael spielte in seinen Zeichnungen alternative Bildlösungen durch, lotete die Ausdruckstiefe einer Erfindung aus.

 

Das Kartonfragment mit dem Gesicht einer Madonna, die auf das Kind in ihrem Schoß herabblickt (um 1505), diente Raffael zur Vorbereitung seiner »Madonna Terranuova«, die heute ein Glanzstück der Gemäldegalerie darstellt. Bereits 1509/10 bereitete er in mehreren Zeichnungen einen Entwurf für die Darstellung des Kindermords von Bethlehem vor, der dann von Marcantonio Raimondo als Kupferstich umgesetzt wurde. Dieser hat seit 1510 etwa 70 Kupferstiche nach Vorlagen Raffaels angefertigt. Der Holzschneider Ugo da Carpi wiederum übertrug ab 1517 Raffaels Bilderfindungen als Chiaroscuro(Hell-Dunkel)-Holzschnitte. Die Zeichnung »Jesuskind und Johannesknabe« (um 1511/12) ist eine Figurenstudie für die »Madonna dell’Impannata«, die sich heute im Palazzo Pitti in Florenz befindet. Durch die Wendung von Oberkörper und Leib beider, die gegenläufige Neigung der Köpfe entsteht eine sentimentgeladene Öffnung zum Betrachter hin. Überhaupt hat Raffael in seinen Zeichnungen das Ineinandergreifen von Körperbewegung, Physiognomien und Gebärden verfeinert und in der fließenden Verkettung der Protagonisten die Intensität der Gesprächssituation gesteigert. Sensibel setzt der Rötelstift in der Figurenstudie »Pluto« (um 1518), die einen jungen, unbekleideten Mann mit einem zweideutigen Lächeln zeigt, das Wechselspiel der Linien, ihre Färbung, Spannung, Schattierung, auch ihre plastischen Formen virtuos in Szene. Bei dem doppelseitig mit zwei geflügelten Puttenfiguren bezeichneten Blatt (um 1519–1520) gibt es möglicherweise eine Verbindung zu dem Fresko auf der Nordwand der Sala Constantino im Vatikan, wo sich mehrere solcher Figuren befinden. Erst wenn Raffael eine befriedigende Lösung gefunden hatte, wechselte er zu anderen Zeichenmedien, dem Pinsel für das Studium der Lichtführung und der roten Kreide für die Festlegung weiterer Einzelheiten.

 

Raffaels bildnerischer Erzählstil blieb bis ins 19. Jahrhundert vorbildlich. Schon in der zweiten Ausgabe seiner »Vite«, 1568, hatte Giorgio Vasari, der Künstler-Historiograf des 16. Jahrhunderts, das Urteil über Raffael ergänzt zu grazia e dolcezza, Anmut und Süße, und damit eine Orientierung für alle spätere Kunstkritik gegeben.

 

 

»Raffael in Berlin. Die Madonnen der Gemäldegalerie«, Kulturforum, Matthäikirchplatz, bis 26. April. »Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett«, Kulturforum, bis 1. Juni; Katalog 16 €. Alle Häuser der Staatlichen Museen zu Berlin sind vorerst bis einschließlich 19. April geschlossen. Einen Eindruck von den beiden Ausstellungen verlieh der Museumsrundgang »Ein Tag im Kulturforum« in der Sendung rbbKultur – Das Magazin vom 21. März, siehe: https://www.rbb-online.de/rbbkultur-magazin/archiv/20200321_1830/kulturforum.html.