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Eigentlich müßten wir …  (Rainer Butenschön)

die erreichten Arbeitszeitverkürzungen verteidigen! Das müsse angesichts »der arbeitszeitpolitischen Rollback-Strategie der Arbeitgeber« gegenwärtig das Hauptziel gewerkschaftlicher Zeitpolitik sein. So fordert es der Gewerkschaftsrat, das zweithöchste Entscheidungsgremium der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), in einer »arbeitszeitpolitischen Entschließung«, die der ver.di-Bundeskongreß beschließen soll. Der berät Mitte September in den Leipziger Messehallen, wie sich ver.di in den kommenden vier Jahren positioniert, welche Handlungsfelder mit Vorrang zu bearbeiten sind. Während verschiedene ver.di-Gliederungen in ihren Anträgen eine Kampagne mit großen Schritten zur Arbeitszeitverkürzung auf 30 oder gar 24 Wochenstunden fordern, halten die im Gewerkschaftsrat versammelten Spitzenfunktionäre ein solches Vorgehen angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses für illusorisch.

Sie bekennen sich zwar allgemein zu »Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich und Personalausgleich«, um »Arbeit menschlicher zu machen und Arbeit gerecht zu verteilen (…), um Beschäftigung zu sichern und Arbeitslosigkeit abzubauen«. Der »neuen Chance«, die sie für eine »vernetzte Arbeitszeit- und Gestaltungspolitik« fordern, geben sie aber nicht die Priorität; sie verstehen sie im Sinne eines Weiter-so eher defensiv als (Tarif-)Politik kleiner Schritte, die zeitpolitisch vor allem für Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für Weiterbildungszeiten und für altersgerechtes Arbeiten sorgen soll.

Der Gewerkschaftsrat reagiert damit auf die bitteren Erfahrungen der letzten Jahre, in denen ver.di mehrfach den Arbeitgeberforderungen nach Arbeitszeitverlängerungen nachgegeben und damit Beschäftigungsabbau tariflich abgesegnet hat. Dies geschah aus eigener Schwäche und auf dem Hintergrund jener »Passivitätskrise« (Richard Sennet) der abhängig Beschäftigten, »die als Folge von Angst und sozialer Unsicherheit, aber auch als Folge von politischer Desorientierung dazu führt, daß die Opfer die kapitalistische Krise gleichsam fatalistisch und subaltern, ohne nennenswerten Widerstand über sich ergehen lassen« (Frank Deppe). Ob sich die Delegierten des ver.di-Kongresses mit der Haltung ihres Gewerkschaftsrates zufrieden geben werden, ist offen. Die Debatte wird kontrovers geführt werden. Vorstöße für einen neuen Aufbruch in der Arbeitszeitpolitik, der an den erfolgreichen Arbeitskampf von IG Druck und Papier und IG Metall 1984 um die 35-Stunden-Woche anknüpfen und die zeitpolitische Lethargie und Lähmung der Gewerkschaften überwinden soll, hat es schon auf den vorangegangenen ver.di-Kongressen gegeben. Sie dürften dieses Mal noch entschiedener vorgetragen werden. Denn es wächst die Einsicht, daß mit Verteidigung allein die Schwindsucht gewerkschaftlichen Einflusses und die Brutalisierung der gesellschaftlichen Zustände nicht zu stoppen sein werden.

So wichtig und notwendig es ist, den in den vergangenen Jahrzehnten mühsam errungenen Besitzstand der (noch) tarifvertraglich und (noch) sozialrechtlich halbwegs geschützten, aber deutlich schrumpfenden Kernbelegschaften zu verteidigen, so offensichtlich ist auch: Im Zuge der neoliberalen Formationsveränderung des Kapitalismus werden ßere Teile der Beschäftigten an den Rand gedrängt, in prekäre Arbeitsverhältnisse und Massenerwerbslosigkeit gestoßen – mit der Folge chronisch schwächer werdender Gewerkschaften.

Ver.di hat darauf mit einer Kampagne für den gesetzlichen Mindestlohn und mit Forderungen nach sozialen und demokratischen Re-Regulierungen von Staat und Gesellschaft reagiert. Da aber, wie Karl Marx enthüllt hat, alle Ökonomie sich letztlich in eine Ökonomie der Zeit auflöst, ist ein neuer Vorstoß auf dieses Kampffeld überfällig – der allerdings kaum gelingen dürfte, solange er auf einen Tarifbereich isoliert bliebe.
Das zeigt die Niederlage der IG Metall bei ihrem (auch am unsolidarischen Verhalten westdeutscher »Betriebsratsfürsten«) gescheiterten Versuch, die Arbeitszeit in der ostdeutschen Metallindustrie auf 35-Wochen-Stunden zu verkürzen. Das zeigt auch der jüngste Tarifabschluß in der Druckindustrie: Einmal mehr ist es dem ver.di-Fachbereich Medien gelungen, die 1984 erstreikte 35-Stunden-Woche zu verteidigen. Nur unter Aufbietung aller im Rahmen der Druckindustrie und der Zeitungsverlage zu Streiks mobilisierbaren Kräfte ist es erneut gelungen, eine Arbeitszeitverlängerung um fünf (unbezahlte) zusätzliche Stunden auf 40 Wochenstunden zu verhindern und den von den Arbeitgebern zum wiederholten Male gekündigten Manteltarifvertrag unverändert wieder in Kraft zu setzen. Der Preis, der wieder einmal für diesen Abwehrerfolg gezahlt werden mußte, ist hoch: Keine der eigenen Forderungen konnte durchgesetzt werden; das Lohnabkommen mit mickrigen zwei Prozent Lohnerhöhung ab 2012 und zwei kleinen Einmalzahlungen bei einer Marathon-Laufzeit des Tarifvertrages von 33 Monaten bedeutet einen Reallohnverlust voraussichtlich etwa in Höhe der halben Inflationsrate; auch die geforderte Gleichstellung von Leiharbeitern mit den Kernbelegschaften mißlang. Letzteres ist kaum verschmerzbar. Es ist bedrohlich, da etliche (Medien-)Unternehmer mit dem zeitlich unbefristeten Einsatz von Leiharbeitern den in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften Branchen-Tarif abzuwickeln versuchen.

Wenn der Tarifabschluß dennoch auf wenig Kritik, eher auf zähneknirschende Zustimmung der betroffenen Belegschaften gestoßen ist, dann deshalb, weil den Beschäftigten der Druck- und Verlagsbranche dank jahrelanger intensiver Debatten über Zeitpolitik eins bewußt ist: Jede Arbeitszeitverlängerung kostet sofort Arbeitsplätze in den Werkhallen und Büros. Dafür schaffen automatisierte Druck- und Versandmaschinen und immer ausgefeiltere EDV-gesteuerte Arbeitsorganisationen die Voraussetzungen. Und da die Unternehmer für die von ihnen angestrebte Arbeitszeitverlängerung nicht einmal zahlen wollten, war klar, sie würde Jobs bedrohen und gleichzeitig Einkommen kosten: nicht weniger als ein Siebtel des Lohns (bei einer Verlängerung von 35 auf 40 Wochenstunden).

Das Schlüsselwort in den Debatten der Streikversammlungen der letzten Wochen vor den Medienhäusern und in den Beratungen darüber, wie es tarifpolitisch in der Branche, in ver.di und hoffentlich mit anderen Kräften gemeinsam weitergehen kann, war und ist deshalb »eigentlich!«: »Eigentlich müßten wir für radikal kürzere Arbeitszeiten kämpfen.« »Eigentlich ist Angriff die beste Verteidigung!« Die unbeantwortete Frage ist, wie das gelingen kann und ob sich mehr als nur gewerkschaftliche Minderheiten von dieser notwendigen Orientierung überzeugen lassen. Einen Anstoß gab die ver.di-Landesbezirkskonferenz Baden-Württemberg mit ihrem Antrag an den ver.di-Bundeskongreß, über die Verteidigung des Erreichten hinauszugehen und den Angriff zu organisieren. Die Organisation müsse auf allen Ebenen eine aktionsorientierte Debatte beginnen und ihre Positionen mit dem Ziel klären, eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung zu starten, denn: »Arbeitszeitverkürzung ist ein entscheidendes gewerkschaftliches Instrument gegen Arbeitslosigkeit, für eine Umverteilung der Arbeit, gegen Leistungsverdichtung und für mehr eigenbestimmte Zeit. Arbeitszeitverkürzung ist ein Stück Gesellschaftsveränderung. Sie ist nur durchsetzbar, wenn es gelingt, Arbeitszeitverkürzung zum Thema einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu machen und starke zivilgesellschaftliche Bündnisse zu schließen.«