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Das Trauma als Leitmotiv der Lyrik Paul Celans  (Manfred Orlick)

»Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng …« – mit diesen Zeilen beginnt das wohl berühmteste deutsche Gedicht des 20. Jahrhunderts: »Todesfuge« von Paul Celan. Das Gedicht – bekannt auch durch die Zeile »… der Tod ist ein Meister aus Deutschland« – wird gelesen, rezitiert, analysiert oder zitiert, dabei war es der einfühlsame Versuch, das Grauen des Holocausts mit lyrischen Mitteln auf einer abstrakten Ebene zu beschreiben. Entstanden unter dem unmittelbaren Eindruck der Ermordung seiner Eltern durch die Nationalsozialisten, wollte Celan damit Adornos Diktum, es ließe sich nach Auschwitz keine Lyrik mehr schreiben, widerlegen. Das Gedicht, das zu einem Zeitdokument und einer Zeugenaussage wurde, hat Celan von der halböffentlichen Lesung auf einer Tagung der Gruppe 47 im Mai 1952, die ein Reinfall war, bis zu seinem Lebensende über ein Vierteljahrhundert verfolgt. Dabei musste sich Celan auch mit dem Vorwurf der Beschönigung des Grauens auseinandersetzen.

 

Paul Antschel – erst nach 1945 nannte er sich Celan (aus der rumänischen Schreibweise Ancel wurde per Anagramm der französische Autorenname Celan) – wurde am 23. November 1920 im rumänischen Czernowitz geboren, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte. Hier besuchte er die Schule und das Gymnasium. Er war in mehreren Sprachen, darunter Deutsch, Rumänisch, Französisch, Englisch, zu Hause und später auch als Übersetzer tätig. Mit 16 Jahren schrieb er erste Gedichte. Im November 1938 reiste er nach Paris, um sich dort auf ein Medizinstudium vorzubereiten. Während eines Zwischenstopps in Berlin nahm er bereits die Pogromstimmung gegen die jüdische Bevölkerung wahr. Als er im Juli 1939 in den Sommerferien nach Czernowitz zurückkehrte, begann wenig später der Zweite Weltkrieg, was seine Rückkehr nach Paris vereitelte. Um der drohenden Deportation zu entgehen, meldete sich Celan zum Arbeitsdienst, wo er zur Zwangsarbeit im Straßenbau herangezogen wurde. Im August 1944 kehrte er nach Czernowitz zurück und nahm sein Studium wieder auf. Hier erfuhr er vermutlich erst vom Tod seiner Eltern.

 

1945 ging Celan nach Bukarest; als Verlagslektor übersetzte er russische Literatur ins Rumänische. 1947 floh er dann nach Wien, wo er Anschluss an Künstlerkreise fand und Ingeborg Bachmann traf. Ein Jahr später siedelte er nach Paris über, das seine zukünftige Heimat werden sollte. Zunächst schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Ab 1959 war Celan dann Lektor für Deutsche Sprache und Literatur an der École Normale Supérieure. 1952 heiratete er die Malerin und Grafikerin Gisèle de Lestrange, was ihm den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft drei Jahre später erleichterte. In Paris lernte Celan auch das Schriftstellerehepaar Yvan und Claire Goll kennen und übersetzte einige Gedichte des jüdischen Dichters. Später erhob Claire Goll gegen Celan öffentliche (letztlich nicht bestätigte) Plagiatsvorwürfe, was ihn psychisch schwer belastete. So musste sich Celan 1962 erstmals in eine psychiatrische Klinik begeben. Depressionen, Angstzustände und Verfolgungsphantasien erzwangen in den folgenden Jahren weitere Klinikaufenthalte. 1967 kam es schließlich zur Trennung von seiner Frau. Zwei Jahre später reiste Celan zum ersten und einzigen Mal nach Jerusalem und verarbeitete die daraus gewonnenen Eindrücke in seinem posthum erschienenen Gedichtband »Zeitgehöft« (1976). Die Umstände und das Datum von Celans Tod sind bis heute nicht geklärt: Vermutlich beging er am 20. April 1970 Selbstmord, indem er sich in die Seine stürzte. Sein Leichnam wurde erst Tage später und zehn Kilometer flussabwärts aus einem Flussfilter geborgen. Am 12. Mai 1970 wurde Celan auf dem Friedhof Thiais bei Paris bestattet. Am selben Tag starb in Stockholm mit Nelly Sachs (1891–1970) eine weitere große jüdische und deutschsprachige Lyrikpersönlichkeit. Die beiden Schicksalsverwandten hatten über einen Zeitraum von 16 Jahren, von 1954 bis Ende 1969, in einem regen und freundschaftlichen Briefwechsel gestanden.

 

Viel wurde über Celans Selbstmord spekuliert. War es die gerade erfolgte Veröffentlichung des Gedichtes »Er« des rumänischen, deutschsprachigen Dichters Immanuel Weissglas (1920–1979), angeblich aus dem Jahre 1944, in dem sich Motive der »Todesfuge« befanden? War der dünnhäutige Celan von der Sorge neuerlicher Plagiatsvorwürfe erfasst? Einem weiteren »Rufmord« wäre er, dessen war er sich bewusst, nicht gewachsen gewesen. Weissglas selbst sah in der »Todesfuge« kein Plagiat, sondern die Antwort »Hölderlinscher Prägung« auf sein Gedicht; die Anschuldigungen gegenüber seinem Landsmann und ehemaligen Klassenkameraden hat er als »schakalartiges Schnüffeln« zurückgewiesen.

 

Ein Höhepunkt in Celans lyrischem Schaffen war 1960 die Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Seine Dichtkunst – rätselhaft, dunkel und oft zart-verletzlich – war immer von seiner Biografie geprägt: dem Sterben der Eltern im KZ, der eigenen Verfolgung und Ghettoisierung sowie dem zufälligen Überleben, das er als persönliche Schuld ansah. Mit diesen Erfahrungen wollte er ein jüdischer Dichter in der Bundesrepublik Deutschland sein. Doch als dieser ging er kaum in das Bewusstsein seiner Leser ein. Dazu der Spagat zwischen Muttersprache und Mördersprache. So blieb Celan in der Literaturszene der Nachkriegszeit ein Außenseiter, ein im Exil in Paris lebender deutschsprachiger Jude, der zwar Interesse und Bewunderung weckte, aber irgendwie nicht dazugehörte. Er fühlte sich ausgegrenzt, saß zwischen den Stühlen und hatte kaum engen Kontakt mit anderen Autoren, mit Ausnahme von Ingeborg Bachmann, mit der ihn eine wechselvolle Liebesbeziehung verband.

 

In diesem Jahr ist sowohl der 50. Todestag als auch der 100. Geburtstag von Paul Celan. Der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr hat eine »Biographie« seines bekanntesten Gedichtes vorgelegt, in der er dessen Geschichte rekonstruiert. Im Hörverlag erschien zudem eine Doppel-CD mit ausgewählten Gedichten und Prosa aus den Jahren 1952 bis 1967, die der Autor selbst in den 1950er beziehungsweise 1960er Jahren eingelesen hat.

 

 

Thomas Sparr: »Todesfuge. Biographie eines Gedichts«, Deutsche Verlags-Anstalt, 336 Seiten, 20 €. Paul Celan: »Todesfuge. Gedichte und Prosa 1952-1967«, Doppel-CD, Lesung, Der Hörverlag, 18 €